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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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den Weg, die denselben Siedepunkt hatte wie ich. Die Schnappschüsse, die ich von der nackten Deb gemacht hatte, beanspruchte Deb interessanterweise als Teil ihres rechtmäßigen Besitzes. Ich fand, dass sie mir gehörten; ich hatte sie gemacht. Aber sie sagte, ihr Körper gehöre ihr. Es klang wie Feminismus aus zweiter Hand, aber ich ließ es dabei bewenden.
    Nach unserer Scheidung sagte meine Mutter zu mir: «Dein Vater hat sich um euch beide Sorgen gemacht, gleich vom ersten Mal an, als du sie mit nach Hause gebracht hast. Er fand, dass sie nicht weiblich genug für dich war.»
    «Er hat viel Wert auf Weiblichkeit gelegt», sagte ich und wusste nicht, ob ich ihr glauben konnte. Es ist so leicht, die Toten falsch zu zitieren.

    Reflexartig will ich Deb immer verteidigen, dabei war ich es, der die Scheidung wollte. Es schockiert mich, wenn meine Klassenkameraden bei unseren Highschool-Jahrgangstreffenes für nötig halten, mir zu sagen, wie viel lieber meine zweite Frau ihnen ist. Es ist wahr, Sylvia lässt sich ohne Scheu mit allen ein, was Deb, viel zurückhaltender, nicht getan hat. Deb hat sie als Teil meiner Vergangenheit betrachtet, Leute, mit denen mich nichts mehr verbindet, außer dass ich alle fünf Jahre zu den Treffen gehe, wohingegen Sylvia, die mich auf meine alten Tage kennt, begriffen hat, dass ich Pennsylvania nie wirklich verlassen habe, dass dort das Ich ist, von dem ich eine hohe Meinung habe, so sporadisch ich auch seine Verfassung überprüfe. Das letzte Treffen, das fünfundfünfzigste, hätte Deb wahrscheinlich deprimiert – all diese Leute von Anfang siebzig, die meisten immer noch im County ansässig, eine kurze Autofahrt vom Krankenhaus entfernt, in dem sie geboren waren, sogar in denselben Doppelhaushälften, in denen sie ihre Kindheit verbracht hatten. Manche saßen in Rollstühlen, und manche waren zu krank, um Auto zu fahren, und wurden von ihren in die Jahre kommenden Kindern zum Treffen chauffiert. Die Liste unserer hingeschiedenen Klassengefährten auf der Rückseite des Programms wird länger; die Klassenschönheiten sind dick geworden oder knochendürre alte Weiber; die Sportstars und die Unsportlichen bewegen sich gleichermaßen mit der Hilfe von Schrittmachern und Plastikknien umher, leben im Ruhestand und beanspruchen Platz in einem Alter, in dem die meisten unserer Väter rücksichtsvoll gestorben sind.
    Aber wir sehen uns nicht so, als Lahme und Alte. Wir sehen Kindergartenkinder – die gleichen runden frischen Gesichter, die gleichen Segelohren und langbewimperten Augen. Wir hören das fröhliche Kreischen auf dem Pausenhof der Grundschule und die betörenden Saxophone und gestopften Trompeten der einheimischen Swingbands, die denblauerleuchteten Turnsaal bei Highschool-Tanzfesten mit ihrer Musik erfüllten. Wir sehen einer im andern die fortbestehende Einfachheit einer Stadt, die unverändert aus der Wirtschaftskrise hervorgegangen ist und dann aus dem Weltkrieg, dessen Bomben uns nie erreicht haben, obschon es Lebensmittelrationierung gab und Spielzeugpanzer und Luftschutzübungen. Alte Rivalitäten werden neu entfacht und beiseitegelegt; alte Romanzen flammen für einen Augenblick auf und sinken in die allgemeine Wärme, die diffuse Liebe ab. Wenn die Schriftführerin, die liebe Joan Edison, deren üppige kastanienbraune Locken jetzt weißer sind als gebleichte Wäsche, das Mikrophon nimmt und mit uns ein Quiz über die alten Zeiten veranstaltet – Spitznamen von Lehrern, die Namen verschwundener Luncheonettes und Eisdielen, die Titel unserer Klassenaufführungen im vorletzten und letzten Highschool-Jahr, der Gewinner der Altmetallsammlung in der dritten Klasse – die Antworten fliegen ihr von allen Seiten zu. Nichts ist so belanglos, dass wir es nicht wüssten: wir sind damals da gewesen, zusammen, und die Ehepartner, unter ihnen Sylvia, applaudieren gutmütig einem so großen, lang gehorteten Schatz nutzlosen Wissens.
    Sie waren nicht nur meine Klassenkameraden; sie waren die Schüler meines Vaters gewesen, und sie erinnerten sich an ihn. Er war mehrere Male die richtige Antwort – «Mr. Werley!» – in Joan Edisons Quiz. Cookie Behn, den es in unsere Klasse verschlagen hatte, weil er sitzengeblieben war und der, ein Jahr älter als wir, schon Alzheimer hatte, kam vor und nach dem Dinner immer wieder zu mir, blinzelnd, als blende ihn ein starkes Licht, und fragte heiser und inständig: «Dein Vater, Jimbo – ist er noch bei uns?» Er hatte die Tatsachen

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