Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
sind keine Leute, die man verärgern sollte«, fügte Mallory hinzu.
»Aber das da draußen ist unsere Welt!« rief Arden aufgeregt. »Die wirkliche Welt - mit Bergen und lebendigen Städten -, wo euer Zuhause ist und das Tal im Sterben liegt.« Er warf verzweifelt die Arme in die Höhe. »Also, ich gehe jetzt rein«, meinte er entschlossen.
»Warte!« sagte Gemma schnell, legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück. »Wir bleiben zusammen. Wir müssen vorsichtig sein.«
Schweigend durchquerten sie die Halle. Als Gemma das in die Tür geschnitzte Zeichen sah, musste sie einen Schrei unterdrücken. Es war die aus dem Gleichgewicht gebrachten Waagschalen mit dem Fischzeichen über der unteren Schale.
»Wieso haben wir das vorher nicht gesehen?« flüsterte sie.
»Weil wir nicht danach gesucht haben«, antwortete Arden.
Sie legte ein Ohr an die Tür und versuchte die gedämpfte Unterhaltung drinnen zu verstehen.
»Es hat also nicht funktioniert«, sagte Wynut gerade.
»Natürlich nicht«, gab Shanti zurück. »Das sieht doch jeder Idiot. Die Frage ist: Warum? Der Zauber hätte mindestens ein halbes Jahrhundert wirken müssen.« Er klang sehr verärgert, doch als er weitersprach, hörte er sich traurig an. »Und ich kann nicht mal zurück, um ihn zu erneuern. Was haben wir bloß angerichtet?«
»Ein Chaos«, meinte Wynut trocken. »Sie sind beide verloren.«
»Diese Verschwendung«, fuhr der andere fort.
»Was kannst du hören?« flüsterte Arden Gemma zu.
»Pssst!«
Aus dem Zimmer drang kein Geräusch.
»Vielleicht sind sie nicht mehr da«, vermutete Gemma leise.
»Dann los!«
Sie drehte vorsichtig am Türgriff, doch sofort schwenkten die beiden Flügel nach innen, und sie sahen sich den beiden zornigen Bewohnern gegenüber.
»Wer hat diese Tür aufgemacht?« verlangte Shanti zu wissen, vor Schreck in einer verständlichen Sprache. »Sie war versiegelt.«
»Das war ich«, gestand Gemma so freimütig wie möglich.
»Hist si teggint ryve degrauson«, sagte Shanti zu seinem nickenden Begleiter.
»Vielleicht unterschätzen wir sie«, überlegte Wynut.
»Teg dir foh meth.«
»Nein, sie müssen hier bleiben. Das ist es, was uns aufgehalten hat!« Wynut war entzückt über seine Entdeckung, Shanti dagegen war alles andere als glücklich.
»Oto degrauson!« fauchte er.
»Haben wir eine Wahl?« gab der kleine Mann zurück.
»Wir brauchen Hilfe«, platzte Gemma heraus. »Wir ...«
»Das ist verboten!« brüllte Shanti und packte Wynut. Dann waren beide wieder verschwunden.
»Was sollte denn das heißen?« fragte Mallory, während Arden zum Fenster am anderen Ende des Zimmers rannte. Gemma zuckte mit den Achseln.
»Sie ist weg!« rief Arden angewidert, dann fluchte er heftig. Draußen waren wieder die glatten, rechteckigen Schachtelhäuser der stummen Stadt. Sonst war nichts zu sehen.
Die Tür hinter ihnen schlug zu, und als Mallory sie wieder zu öffnen versuchte, rührte sie sich kein Stück.
»Wynut hat recht gehabt«, bemerkte sie trocken. »Wir müssen hierbleiben.«
»Wir sitzen in der Falle.« Arden war tief unglücklich.
»Jetzt auch nicht mehr als schon die ganze Zeit seit unserer Ankunft«, erwiderte Gemma ruhig und sah sich im Zimmer um. Regale bedeckten die beiden Hauptwände, diesmal jedoch standen nur wenige Bücher darauf. Die oberen Regale waren vollkommen leer. »Hier gibt es nicht viel Geschichte«, sagte sie zu sich selbst und fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte.
Unterhalb des Fensters stand ein eindrucksvoller Schreibtisch, auf dessen Platte Schreibutensilien und Bücher verstreut lagen. Gemma setzte sich in den dazugehörigen Sessel, während Arden sich zu Boden sinken ließ und sich mutlos zusammenrollte. Mallory kniete neben ihm und versuchte, ihn zu trösten. Gemma schien sie nicht zu bemerken - sie wusste, dass ihr Eingesperrtsein in diesem Zimmer einen Zweck haben musste und dass es an ihr lag, ihn herauszufinden.
Sie untersuchte den Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf und nahm ein schlichtes, ledergebundenes Tagebuch heraus. Das machte sie neugierig. Sie öffnete es an einer beliebigen Stelle und sah sofort, dass es mit der Hand geschrieben war. Die Buchstaben variierten von exakten, spinnengleichen Symbolen zu unleserlichem Gekrakel. Es gab sogar winzige Bilder und Diagramme; die Schrift war mittels bedeutungsloser Zahlen in kurze Absätze unterteilt. Das meiste ergab überhaupt keinen Sinn.
Ein Tagebuch, erkannte Gemma. Shantis Tagebuch!
Sie
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