Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
blätterte zum Anfang zurück, in der Absicht, soviel wie möglich zu lesen, doch beim Anblick der ersten Worte wünschte sie fast, sie hätte es nie gefunden.
Ich spüre, wie sich die Stadt befreit. Wenn ich denn ein Wanderer sein soll, so ist dies nicht die Art zu reisen, die ich wählen würde, dennoch werde ich das mir mögliche tun, bevor sich die Dunkelheit über uns alle senkt. Es ist wenig, verglichen mit den Ereignissen, die Die Einebnung in Gang gesetzt haben, aber auch wenn es mir schwerfällt, meine Freunde zu verlassen, so fürchte ich dennoch, dass sie am Ende nichts wird retten können.
Es folgten mehrere Abschnitte, die ebenso viel Sinn ergaben, wie Shantis Art zu sprechen. Einige bestanden aus Symbolen und Zeichen, die Gemma nicht kannte. Dann fiel ihr ein weiterer Abschnitt ins Auge, und sofort, als sie mit dem Lesen begann, schienen die Buchstaben innerlich zu erglühen und lebendig zu werden. Sie stellte fest, dass sie den Text flüssig lesen konnte, und ihre Stimmung stieg merklich, als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde.
Es ist jetzt fast soweit. Ich muss einen Entschluss fassen. Vielleicht gibt es doch noch einen Weg. Beeil dich. Schnell!
Es folgte eine seltsame Folge von Kritzeleien und Pfeilen, und dann las sie:
Ich habe es getan! Meine winzigen Freunde sind nun die Wärter zweier Clans, die sie niemals kennenlernen werden. Wenn der Wind umschlägt, am kürzesten Tag, werden sie dem Stein mein Lob singen. Wenn er sich bewegt, dann auch der andere, und damit der Lauf des Wassers. Sowohl das Tal des Wissens als auch das Lichtlose Königreich werden ein ums andere Jahr ihren Teil erhalten und so überleben. Eine schwere Last wurde mir vom Herzen genommen, und ich kann mit ein wenig Frohsinn in meinem Lied von dannen ziehen.
Sollte es wirklich so einfach sein? fragte sich Gemma. Seine Beschreibung des alle zwei Jahre fließenden Flusses war zu genau und konnte kein Zufall sein, und das Tal des Wissens war auch unverkennbar. Das Lichtlose Königreich blieb ihr ein Rätsel, aber die >winzigen Freunde< waren sicherlich die Meyrkats. Shanti musste jener Gott sein, der den Schaukelstein aufgestellt und ihnen zur Bewachung dort gelassen hat und der >Sobald der Wind umschlägt< sang, um so auf irgendeine Weise die Quelle des Flusses zu beeinflussen. Gemma war sicher, dass es so stimmte - es passte alles genau zusammen.
Aber was ist schiefgegangen? Sie rief sich das Gespräch in Erinnerung, dass sie vor kurzem belauscht hatte. Shanti hatte gesagt: »Ich kann nicht einmal mehr zurück, um ihn wiedereinzurichten.«
Ja, vielleicht kann er das wirklich nicht, dachte Gemma aufgeregt. Aber ich kann es!
Sie wollte ihre Entdeckung gerade den anderen mitteilen, als ihr Blick auf die erste Zeile des nächsten Abschnitts fiel.
Jetzt sind wir verloren. Lebt wohl, meine Freunde. Ich werde die Hoffnung niemals aufgeben, dass wir uns eines Tages Wiedersehen werden, denn was nützt die Unsterblichkeit, wenn man sich jenseits all derer befindet, die einem lieb sind. Ich sträube mich dagegen, die Hoffnung aufzugeben. Dennoch, die Finsternis rückt immer näher - ich werde sie vor euch allen sehen. Lebt wohl.
Gemma blätterte um, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, doch die nächsten Blätter waren leer. Sie hatte einen völlig neuen Eindruck von Shanti gewonnen. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass die anderen sie mit sorgenvoller Miene beobachteten. Sie stand auf und trug das Buch hinüber zu ihnen.
Auf dem Boden niederhockend, sagte sie: »Ich habe die Antwort auf das Problem des Flusses gefunden. Hier, lest das.« Sie beugte sich vor und reichte Arden das Tagebuch.
Er wollte gerade danach greifen, als der Dampf aus dem Topf mit kochendem Wasser ihm die Finger verbrühte.
42. KAPITEL
Das Wasser kochte fröhlich unter ihren staunenden Blicken über dem Lagerfeuer. Sie waren zurück in ihrer eigenen Welt. Die Pferde grasten friedlich in der Nähe, Lark rieb noch immer seine Schnauze an Mischas Hals, und Apple hob, ein Maulvoll Gras mampfend, den Kopf und sah sie an. Das plötzliche Wiederauftauchen ihrer Reiter bereitete ihnen offensichtlich keine Schwierigkeiten.
Trotz der Dämmerung konnte Gemma eine Nebelbank erkennen, die auf der anderen Seite des Tals von ihnen fortwehte.
»Seht«, sagte sie und zeigte auf den Nebel. »Die Stadt verschwindet.«
Sie beobachteten, wie der Dunst in die Dunkelheit entschwand.
»Den Göttern sei Dank!« sagte Arden. »Jetzt können wir weiterreiten.«
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