Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
Stein in ihrer Mitte finden zu müssen.
Wieviel Zeit bleibt mir noch? fragte sie sich, doch die Frage bedeutete eigentlich nicht viel. Nach der Position ihres Schattens auf dem Boden unter ihr zu urteilen, stand die Sonne noch immer so hoch, dass wenigstens noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang blieben. Doch auch das schien jetzt irrelevant.
Die Landschaft verwandelte sich schon bald in die allzu vertraute Mischung aus Sand, Fels und Dornengestrüpp, und sie ließ den Blick auf der Suche nach dem Stein in der Mitte über die Szenerie vorne schweifen. Doch die Wüste blieb flach und nichtssagend, schien sie mit ihrer Gewaltigkeit zu verspotten.
Mehr nach Westen.
Die Anweisung drang ungefragt in ihr Gehirn.
Cai? dachte sie automatisch, erkannte aber sofort, dass sie Ardens Stimme gehört hatte. Arden, kannst du mich hören? fragte sie verwundert. Obwohl keine Antwort kam, kein Gefühl der Kameradschaft wie früher bei Cai, so waren die Worte doch wirklich gewesen. Sie folgte ihnen und drehte den Drachen langsam, indem sie die Klappen ausrichtete. Ihre tauben Finger bewegten sich ungeschickt, und das Segel erzitterte, als ihr eines der Seile entglitt. Ein fürchterliches Reißen oben, und das Gefühl für den Drachen änderte sich völlig. Gemma konnte sich nicht weit genug drehen, um festzustellen, wie groß der Schaden war, doch sie musste ihre letzten Kräfte mobilisieren, um den geraden Kurs zu halten. Sich selbst überlassen würde der Drachen nach rechts driften. Außerdem verlor er an Höhe.
Eine Bewegung in der Ferne erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen und sah einen riesigen braunen Wirbel, der die Wüste kreuzte. Wie gebannt verfolgte sie, wie der Sandsturm immer näher kam und mit jedem Augenblick furchterregender wurde. Sie wusste, dass ihr beschädigtes Gefährt ihn niemals überstehen konnte, und sie wusste auch, dass sie keine Möglichkeit hatte, ihm auszuweichen.
Der Rand des Maelstroms erfasste das Segel und der Drachen bockte, glitt zur Seite. Gemma gab jeden Versuch auf, ihn noch steuern zu wollen, und überließ sich dem Schicksal. Das Reißen oben wurde lauter, als das Segel langsam zerfetzt wurde, und sie schloss die Augen zum Schutz gegen den Sand, während die Welt ringsum in grauenhaft röhrender Finsternis versank.
Gemma hatte keine Ahnung, wie lange sie während des Sturms noch in der Luft blieb. Ihr kam es vor wie ein ganzes Leben, und doch mochten es nur Augenblicke gewesen sein. Ihr Absturz schließlich verlief überraschend glimpflich. Er wurde durch mehrere Dornenbüsche gedämpft. Sie blieb eine Weile regungslos mit erstarrten Gliedern liegen, konnte nicht fassen, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Die zersplitterten Trümmer des Drachens lagen überall ringsum verstreut. Das Gefühl kehrte in ihre Glieder zurück, langsam und schmerzhaft, begleitet vom Brennen mehrerer Kratzer und Schnitte, die ihr der Boden und die grausamen Dornen zugefügt hatten.
Es blieb dunkel. Sandwolken wirbelten in schwindelerregenden Wogen über ihren Kopf hinweg.
Wenn der Wind wechselt, dachte sie und heulte vor Enttäuschung, während sie sich mühsam aus dem Geschirr befreite. Anschließend legte sie sich mit dem Gesicht in den Sand, um ihr zerschundenes Gesicht so gut es ging zu schützen.
Während die letzte Stunde des kürzesten Tages verstrich, ließ der Wirbelsturm allmählich nach. Dann vernahm Gemma in ihrem Elend ein anderes Geräusch. Zuerst glaubte sie, ihre Ohren spielten ihr einen Streich, doch in einem vergleichsweise windstillen Augenblick war das neue Geräusch unverkennbar.
Der Gesang der Meyrkats.
46. KAPITEL
Während Gemma nach Norden flog, ritt Arden zuerst nach Osten, dann nach Süden. Er hatte beobachtet, wie der Drachen spiralförmig in den Himmel stieg, doch als er schließlich wegkippte und rasch aus seinem Blick verschwand, war er sofort aufgebrochen. Er hielt Lark zu flottem Tempo an, sobald der Boden es zuließ, und so war es früher Morgen, als er die Stelle erreichte, wo ihr Lager von Shantis schwebender Stadt verschluckt worden war. Er ritt weiter, hielt Ausschau nach ziehenden Nebelbänken und blieb dem gesprungenen Felsen fern, wo der Fluss im Untergrund verschwand.
Die nächsten sechs Meilen war das Flussbett gut zu verfolgen. In glücklicheren Zeiten waren offenbar riesige Wassermengen durch dieses Tal hinabgeschossen und hatten dabei eine tiefe Rinne in den nackten Fels gespült, jetzt jedoch war es vollkommen trocken.
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