Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
Oberfläche. Arden zitterte vor Angst. Hinter dem Damm war die Spalte leer - dunkler, nackter Fels.
Wo fließt das Wasser hin? wunderte er sich. Was ist das für ein Ding?
Noch bevor er es hörte, spürte er über das Donnern des Wassers hinweg ein anderes Geräusch, und sein Gefühl des Grauens wurde stärker. Von tief unter seinen Füßen kam ein dumpfer, wiederkehrender Hall, als würde das Fundament der Erde selbst erschüttert.
Mitten im Sturm sangen die Meyrkats und erhoben ihre Stimmen zu einem komplizierten, dissonanten Geflecht aus Tönen. Jedes einzelne Tier kannte seinen Part, und doch hatte ihr Gesang etwas seltsam Ungewisses, so als würden sie an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln. Einige Stimmen waren nach wie vor kräftig, schienen die anderen unterdrücken zu wollen, doch zu viele wurden immer schwächer, begannen zu zittern.
Gemma hörte sie jetzt deutlicher und merkte, dass der Sandsturm zu Ende ging. Es war zwar noch immer dunkel, doch konnte sie jetzt die Augen öffnen, ohne dass der herumfliegende Sand sie blendete. Sie erhob sich auf die Knie und versuchte herauszufinden, wo genau der Gesang herkam. Ihr zerschlagener, zerschundener Körper protestierte gegen die Bewegung, doch mittlerweile gewann sie ein Stück ihrer Zielstrebigkeit zurück und zwang sich, die Schmerzen zu ignorieren.
Langsam kroch sie auf allen vieren über den Sand. Ist die Sonne schon untergegangen? fragte sie sich, hielt die Hand schützend vor die Augen und sah sich um, so gut es ging. Sie hatte keine Ahnung, wo Westen war, und der Himmel war immer noch hinter fliegendem Sand verborgen.
Der Gesang der Meyrkats wurde lauter. Gemma biss die Zähne zusammen, zwang sich, schneller zu kriechen, und plötzlich vernahm sie außer dem Gesang auch Gedankenübertragungen.
Es klappt wieder nicht. Ir.
Die Götter hören uns nicht. Ul.
Wir müssen es weiter versuchen! Denkt an unser Versprechen. Od.
Singen wir. Ox.
Ods Drängen hatte den gewünschten Erfolg, und obwohl einige noch immer schwankten, erhoben sich die Stimmen des Clans mit neuer Kraft.
Einen Augenblick später zog der letzte Rest des fliegenden Sandes ab, und Gemma sah den Stein. Er war nicht mehr als hundert Schritte entfernt - das Schicksal oder Glück hatte sie näher an ihr Ziel herangeführt, als sie zu hoffen gewagt hatte. In die Sonne blinzelnd, kam sie matt auf die Beine.
Sonnenlicht! Gemmas abgestumpfter Verstand versuchte zu begreifen, was das hieß. Obwohl die Sonne tief über dem westlichen Horizont stand, schien sie noch. Es war nicht zu spät!
Eine Woge geistiger Verwirrung spülte über sie hinweg - gleichzeitig stockte der Gesang der Meyrkats und erstarb.
Gemma. Du bist zurück! Ul.
Die Tiere standen im Kreis um den Stein, und sie alle drehten sich um und sahen sie an, Dutzende schwarzglänzender Augen, alle mit demselben Ziel. Dann riefen sie plötzlich alle ihre Begrüßungen und kamen auf allen vieren auf sie zugesprungen.
Gemma nahm ihre letzten Kraftreserven zusammen, bat sie um Ruhe, als sie sich alle um sie versammelt hatten, und erzählte ihnen, weshalb sie gekommen war.
Euer Gesang ist sehr wichtig. Ihr müsst wieder anfangen. Aber zuerst muss ich euch einige Dinge fragen. Gemma. Sie hielt inne, sammelte ihre verstreuten Gedanken, während die Meyrkats in respektvollem Schweigen verharrten. Ich bin gekommen, dem Gott zu helfen, euch wieder zu hören, fuhr sie fort. Ihr müsst mir den Gesang beibringen. Aber schnell, denn die Sonne ist fast verschwunden. Gemma.
Wie erwartet antwortete Od für den Clan. Offenbar war er der Experte in Angelegenheiten, die den Stein betrafen.
Der Gesang ist einfach. Es ist ein Krallen-Zyklus. Wir wiederholen jeder abwechselnd die Gott-Worte. Od.
Fünfmal? fragte Gemma und hielt eine Hand in die Höhe, anstatt der Krallen die Finger ausgebreitet.
Ja. Die Gott-Worte sind folgende. Od. In Gemmas Kopf erschallte der Gesang, mehrere >Stimmen< mischten sich, verschmolzen miteinander. Sie sollte nie erfahren, wie es ihr gelang, die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten, doch nach ein paar Augenblicken wurden sie ihr klar.
Bitte meinen Bruder, fortzuziehen.
Denn das Jahr ist um.
Ich werde meine Stimme mit eurer verschmelzen, Gemma, sagte sie und schaute hinauf zur Sonne, deren unterer Rand jetzt den Horizont berührte. Insgeheim fragte sie sich, was die Worte bedeuten mochten. Wie hatte es in Shantis Tagebuch gestanden? Wenn es sich bewegt, wird sich auch der andere bewegen. Der andere. Ihre Hoffnung
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