Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
einen Kreis. Der Süden rief sie wieder, und jetzt verfügte sie mit dem Drachen über das Mittel, in diese Richtung zu reisen. Die Versuchung war überwältigend, doch all ihre Instinkte flehten sie geradezu an, nach Norden abzudrehen und das Ziel zu verfolgen, für das sie und Arden so lange gearbeitet hatten.
Cais Stimme - oder war es die von Arden? - klang ihr wieder im Kopf. Wenn du diesem Klang folgst, wirst du sterben.
Gemma biss die Zähne zusammen, zwang den Drachen auf nördlichen Kurs und begann ihre lange Reise, während ihre Gedanken quälend um die Ablehnung jener verführerischen Einladung kämpften.
Hilf mir! flehte sie Cai an und wurde mit einem Gefühl der Anerkennung und Kameradschaft belohnt. Er steuerte den Drachen nicht für sie - konnte es auch gar nicht -, doch seine körperlose Anwesenheit verhinderte, dass der Zwist sie in den Wahnsinn trieb. Plötzlich ergriff sie die Einsamkeit des Fliegens, und sie begann, die betäubende Kälte zu hassen, die ihre vormals warme Kleidung längst papierdünn erscheinen ließ. Der Drachen flog weiter, schwebte zwischen den höchsten Gipfeln hindurch, die ihren Weg markierten, doch immer nach Norden - und ein wenig nach Westen.
Kurz vor Mittag endetet der Sirenengesang plötzlich, und Gemma wäre vor Erleichterung fast ohnmächtig geworden. Sie seufzte dankbar auf und betrachtete das Gelände unter ihr mit neuer Kraft. Nichts hier wirkte vertraut, doch sie konnte weit nach Norden blicken, wo die Berge niedriger wurden, und sie glaubte sogar die Ansätze der Küstenebene zu erkennen. Die zunehmende Kargheit des Landes unter ihr war ein sichtbarer Beweis dafür, dass die Wüste näher rückte, und zum erstenmal begann sie, über ihre Aufgabe nachzudenken; sollte sie es tatsächlich bis zum Schaukelstein schaffen? Bislang war all ihre Energie darauf ausgerichtet gewesen, dorthin zu gelangen. Jetzt wuchs ihre Zuversicht und war soweit gediehen, dass sie bereit war für den nächsten Schritt.
Werde ich rechtzeitig kommen? fragte sie sich. Muss der magische Gesang vor Einbruch der Dämmerung, vor Sonnenuntergang oder vor Mitternacht gesungen werden?
Vor Sonnenuntergang, kam Cais überraschende Antwort.
Woher weißt du das?
Ich bin ein Zauberer, sagte er, und sein bitteres, ironisches Lachen hallte ihr durch den Kopf.
Was muss ich tun? fragte Gemma schnell, zu aufgeregt, um Cais Stimmungswechsel zu bemerken. Die einzige Antwort war ein zunehmend manisches Gelächter, und eine neue Angst krallte sich in Gemmas Herz. Cai! rief sie. Was ist mit dir?
Mehrere Herzschläge lang blieb die Antwort aus, und als er endlich antwortete, war er so leise, dass sie seine matten Worte kaum verstand.
Warum kannst du mich nicht in Frieden lassen?
Sie fühlte sich fürchterlich und flehte seinen Geist an. Verlass mich nicht, Cai. Ich brauche dich.
Nein, darüber bist du hinweg, meinte er niedergeschlagen. Ich habe es versucht, doch meine Kraft lässt nach. Du bist mir mehr als ebenbürtig, Gemma - du wirst es alleine schaffen.
Sie hörte seine Verletztheit und seine Selbstvorwürfe, wollte die Hand austrecken, um ihn zu trösten, musste aber feststellen, dass sie doppelt hilflos war. Sie konnte nicht einmal sprechen.
Mach sie alle stolz auf dich, fuhr Cai fort. Wie mich. Ich habe dich immer geliebt, Gemma. Behalte mich nicht in zu schlechter Erinnerung.
Er war fort. Gemma ritt alleine durch die Lüfte. Sie weinte Tränen aus Eis über seinen Verlust, aber auch noch aus einem anderen Grund. Wie kann er glauben, ich denke schlecht über ihn? Es war fast zuviel für sie.
Dann, wie als Antwort auf Cais Verschwinden, geriet der Drachen aufgrund einer plötzlichen Turbulenz ins Schlingern und sackte weg. Gemma konzentrierte sich mit Mühe, versuchte, ihren Flug zu glätten, dachte daran, nicht gegen den wechselnden Wind anzukämpfen, sondern ihn so gut es ging zu nutzen - direkter Widerstand gegen die Kräfte der Natur konnte ihr zerbrechliches Gefährt zerreißen. Sie hatte zwar an Höhe verloren, hielt jedoch den richtigen Kurs, so dass sie all ihre Kraft zum Steuern benötigte und für die Suche nach neuen Möglichkeiten, aufzusteigen.
Am Nachmittag war sie fast völlig erschöpft, ihr ganzer Körper taub. Ihr Verstand arbeitete ohne bewusste Gedanken. Die Berge unter ihr waren einem wellig-braunen, ausgetrockneten Vorgebirge gewichen, dem, wie sie wusste, die Wüste folgte. Gemma konnte sie in der Ferne erkennen, fast grenzenlos, und sie verzweifelte fast daran, den
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