Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
tun. Sie versteckten ihn unter allem, was man zu seinem Schutz finden konnte und bauten ein behelfsmäßiges Dach. Die Konstruktion war wohl kaum wasserdicht, aber etwas Besseres brachten sie nicht zustande.
Zwei Mann starke Posten wurden eingerichtet, die den Drachen während der Nacht bewachen sollten, alle anderen kehrten zurück ins Dorf. Während des Abends fing es an zu regnen. Mallory lauschte dem Trommeln auf dem Dach der Gasthütte und fragte sich, ob es bis zum Morgen wieder aufhören würde.
»Ich breche beim ersten Tageslicht auf«, antwortete Gemma. »Egal, wie das Wetter ist.«
Tatsächlich war es bei Tagesanbruch kalt, aber klar. Gemma war aufgestanden, um den Beginn des kürzesten Tages des Jahres zu verfolgen, wie auch alle anderen Bewohner von Keld. Alles stapfte durch das feuchte Gras und den Farn hinauf zur Abflugstelle, und die Posten berichteten, dass, obwohl seit drei Stunden kein Regen mehr gefallen war, etwas Wasser bis zum Segel durchgedrungen war. Als man den Drachen vorsichtig aufrichtete, waren tatsächlich ein paar feuchte Stellen zu sehen, aber es hätte wesentlich mehr geschehen müssen, um Gemma von ihrem Vorhaben abzubringen.
Wieder hatte sie mit Hilfe von Met geschlafen, und Mousel hatte am Morgen eine weitere Flasche mitgebracht.
»Hier, trink alles«, befahl ihr die Wahrsagerin. »Das gibt Kraft.«
»Ich will nicht betrunken sein!« scherzte Gemma, fügte sich aber nur zu gerne. »Drachenblumen?« erkundigte sie sich.
Mousel zuckte mit den Achseln. »Ein paar.«
Gemma atmete tief durch. »Also schön, los geht's«, meinte sie und schnallte sich in die Riemenkonstruktion. Als sie und ihre Helfer überzeugt waren, dass sie sicher saß, probierte sie die Steuerseile aus. Sie funktionierten, also trug sie den Drachen mit der Hilfe von mehreren Leuten zum Rand der Klippe. Alleine konnte sie ihn gerade eben anheben, indem sie das Gewicht auf die Schultern lud, Gehen jedoch wäre zum Problem geworden.
Nachdem sie in Stellung gegangen war, wartete sie, atmete tief durch, um ihre Nerven zu beruhigen und ihren Herzschlag zu beschleunigen, und versuchte, nicht auf den Hunderte von Schritten unter ihr liegenden Wald zu sehen. Der Wind zerrte sachte am Segel, doch Mallory und Bullin hielten es noch an den hinteren Ecken fest.
Jetzt oder nie, dachte Gemma. Wenn ich ein Wanderer bin, dann ist dies nicht die richtige Art zu reisen. Sie lachte laut auf, als sie an Shantis Worte denken musste.
»Wünscht mir Glück!« rief sie.
»Viel Glück«, erwiderte Mallory, froh darüber, dass Gemma die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. »Komm ins Tal, wenn du fertig bist. Wir treffen uns dort.« Es kostete sie alle Willenskraft, zuversichtlich zu klingen.
»Abgemacht«, sagte Gemma, dann hob sie die Stimme, damit alle Dorfbewohner sie hören konnten. »Vielen Dank, euch allen. Hoffentlich erweise ich mich eurer Mühe würdig.«
Vielstimmige Glückwünsche.
»In der Hinsicht haben wir keine Befürchtungen«, sagte Bullin. »Viel Glück. Lind leb wohl.«
»Auf Wiedersehen!« brüllte Gemma, dann trat sie einen Schritt nach vorn und stürzte sich in die zitternde Umarmung der sturmgepeitschten Leere.
Arden war zerrissen von einer Vielzahl widersprüchlicher Gefühle aus Keld davongeritten. Zwar war er unleugbar froh, wieder unterwegs zu sein und sich seinem Ziel zu nähern, doch der Verlust seiner beiden Begleiterinnen ging ihm nahe. Er wurde die verzweifelte Angst, angesichts des Risikos, das Gemma einging, einfach nicht los. Er hasste sich dafür, dass er nicht hatte bleiben und ihren Start mitansehen können, andererseits konnte er weder ihren Kurs ändern, noch ihr helfen. Müsste er zusehen, wie sie umkam, es würde ihn zerreißen. Seine Liebe machte ihn schwach, und obwohl er seine Schwäche verabscheute, ließ sich ihre Macht über ihn nicht leugnen.
Er ritt langsam an diesem Morgen, sah sich häufig um, ob sich im Dorf irgendetwas regte. Kurz nach Mittag sah er, dass der Drachen aus dem Dorf getragen wurde, und er verfolgte, wie er - einer riesigen, gelben Motte gleich - über das Maiden Moor kroch. Nach einer Weile machte er sich wieder auf den Weg, unbewusst den Weg zu höher gelegenem Gelände im Süden des Berges einschlagend, um bessere Sicht zu haben.
Bei Einbruch der Dämmerung hatte er einen Hügel genau im Süden von Blencathra erreicht. Er wusste, dass die Stelle für ein Lager ungeeignet war, doch von hier aus konnte man den gesamten südlichen Teil der Ebene
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