Die Träumerin von Ostende
haben mich nicht gelesen.«
»Nein, aber Sie schreiben.«
»Möchten Sie, dass ich aufschreibe, was Sie mir anvertrauen?«
»Auf keinen Fall.«
»Was dann?«
»Sie schreiben … das bedeutet, Sie sind auf andere neugierig. Und was ich brauche, ist ein wenig Neugierde, mehr nicht.«
Ich lächelte und berührte leicht ihre Hand.
»Wenn das so ist, bin ich einverstanden.«
Sie lächelte ihrerseits, verlegen über meine Vertraulichkeit. Nach einem Hüsteln strich sie mit dem Fingernagel über den Rand ihres Tellers, senkte die Lider und begann zu erzählen.
»Eines Morgens, vor mehr als fünfzig Jahren, wachte ich in der festen Überzeugung auf, dass mir etwas Wichtiges widerfahren würde. Eine Vorahnung, eine Erinnerung? Ich wusste es nicht. Erhielt ich eine Botschaft aus der Zukunft, oder folgte ich einem halbvergessenen Traum? Jedenfalls hatte ein Raunen des Schicksals meinen Schlaf genutzt und diese Gewissheit in mir hinterlassen: Etwas würde geschehen.
Sie wissen, wie dumm uns solche Eingebungen machen: Man will unbedingt herausbekommen, was passieren wird, kann es kaum noch erwarten und vertut sich dabei gewaltig. Beim Frühstück legte ich mir somit allerhand zurecht: Mein Vater kam zurück aus Afrika, wo er wohnte; der Postbote brachte mir einen Brief von dem Verleger, der meine Jungmädchengedichte veröffentlichen wollte, oder aber ich traf meinen besten Freund aus Kindertagen wieder.
Der Tag torpedierte meine Illusionen. Der Briefträger ignorierte mich. Nicht ein Mensch läutete an der Tür. Und auch das Schiff aus dem Kongo brachte meinen Vater nicht mit in seiner Fracht.
Kurz, ich empfand meine morgendliche Begeisterung inzwischen als reichlich übertrieben und dachte schon, ich sei verrückt. Am Nachmittag, ich hatte schon so gut wie aufgegeben, machte ich mit Bobby, dem Spaniel, den ich damals hatte, einen Strandspaziergang; und auch dort sah ich, trotz allem, aufmerksam aufs Meer hinaus, man wusste ja nie … Ein starker Wind wehte, kaum ein Schiff fuhr, und der Strand war menschenleer.
Ich ging langsam vor mich hin, entschlossen, meine Enttäuschung mit Ermüdung zu bekämpfen. Mein Hund, der begriff, dass sich der Spaziergang hinziehen würde, stöberte ein vergessenes Spielzeug auf, um sich mit mir die Zeit zu vertreiben.
Er rannte zu einer Düne, wohin ich den Ball geworfen hatte, als er mit einem Mal, als hätte ihn etwas gestochen, zurückwich und zu bellen begann.
Ich versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen, untersuchte die Ballen seiner Pfoten, fand nichts, machte mich laut über ihn lustig und ging den Ball schließlich selbst holen.
Da tauchte ein Mann aus dem Gebüsch auf.
Er war nackt.
Als er mein Befremden sah, riss er mit kräftiger Hand ein Büschel Gras aus und bedeckte damit sein Geschlecht.
»Mademoiselle, ich flehe Sie an, haben Sie keine Angst.«
Ich hatte keine Angst, im Gegenteil. Er wirkte so stark auf mich, so männlich, so überaus begehrenswert, dass es mir den Atem verschlug.
Flehentlich streckte er seine Hand nach mir aus, wie um mich zu beruhigen.
»Bitte, könnten Sie mir helfen?«
Ich bemerkte, dass sein Arm zitterte.
»Ich … ich habe meine Kleider verloren …«
Nein, er zitterte nicht, ihn fröstelte.
»Ist Ihnen kalt?«, fragte ich.
»Ein wenig.«
Seine zurückhaltende Äußerung ließ auf eine gute Erziehung schließen. Ich überlegte rasch, was zu tun sei.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas zum Anziehen hole?«
»O ja, bitte …«
Ich überschlug kurz, wie viel Zeit ich dazu benötigte. »Das Problem ist, ich brauche zwei Stunden, eine für den Hinweg und eine für den Rückweg; bis dahin sind Sie zu Eis erstarrt. Zumal der Wind zunimmt und es dunkel wird.«
Ohne länger zu zögern, knotete ich den Umhang auf, den ich anstelle eines Mantels trug.
»Hören Sie, legen Sie sich das um und kommen Sie mit. Das ist die beste Lösung.«
»Aber … aber … Sie werden sich erkälten.«
»Gehen wir, ich habe immer noch mein Kleid und einen Pullover, wohingegen Sie nichts haben. Jedenfalls kommt es nicht in Frage, dass ich mit einem nackten Mann an meiner Seite den Strand entlanglaufe. Entweder Sie nehmen meinen Umhang, oder Sie bleiben hier.«
»Ich warte.«
»Was für ein Vertrauen«, sagte ich lachend, da mir plötzlich die Komik der Situation aufging. »Und wenn ich nun nicht wiederkomme?«
»Das werden Sie nicht tun.«
»Woher wissen Sie das? Hat Ihnen vielleicht irgendwer verraten, wie ich für gewöhnlich mit nackten
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