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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Männern verfahre, die ich im Gebüsch aufspüre?«
    Jetzt lachte er seinerseits laut auf.
    »Einverstanden. Ich nehme Ihren Umhang gern an, danke.«
    Ich ging zu ihm, damit er seine Hände nicht heben und sein Geschlecht entblößen musste, und hängte ihm das wollene Kleidungsstück um die Schultern.
    Erleichtert hüllte er sich darin ein, obgleich es seinen großen Körper kaum bedeckte.
    »Ich heiße Guillaume«, rief er, als sei es an der Zeit, sich vorzustellen.
    »Emma«, erwiderte ich. »Reden wir nicht lange und gehen so schnell wie möglich zu mir, bevor wir bei diesem Wetter noch zu Eis erstarren. Einverstanden?«
    Wir kämpften gegen den Wind an.
    Hat man beim Gehen erst einmal eine bestimmte Richtung eingeschlagen, ist nichts unangenehmer als diese Art der Fortbewegung. Während zielloses Flanieren Vergnügen bereitet, kommt einem jedes zielgerichtete Gehen endlos vor.
    Glücklicherweise ist dem seltsamen Paar, das wir abgaben, niemand begegnet. Da wir schwiegen, wurde ich mit jeder Minute unsicherer, ich wagte meinen Weggefährten kaum anzusehen, ich fürchtete, der Wind könnte den Stoff lüften und mein Blick als anzüglich verstanden werden. Daher schritt ich, mit verkrampften Schultern und steifem Nacken, kräftig aus.
    Kaum waren wir heil in der Villa Circé angelangt, hüllte ich ihn fest in die Decken aus dem Salon und begab mich eilig in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Ich mimte die gute Hausfrau, ich, mit meinen zwei linken Händen. Während ich Gebäck auf einen Teller legte, ging mir kurz durch den Kopf, dass ich ausgerechnet an einem Tag ohne Personal einen Unbekannten mit in mein Haus brachte, dann aber ärgerte ich mich über dieses kleinliche Misstrauen und kehrte rasch mit meinem Tablett und dem dampfenden Tee in die Bibliothek zurück.
    Er erwartete mich lächelnd und vor Kälte zitternd, zusammengerollt auf dem Sofa.
    »Danke.«
    Wieder fielen mir sein klares Gesicht auf, seine hellen Augen, sein langes gelocktes, goldenes Haar, seine vollen Lippen und sein weicher Hals mit dem kräftigen Ansatz. Einer seiner Füße schaute unter der Decke hervor, und ich bemerkte, dass sein Bein glatt, schlank und unbehaart war wie antiker Marmor. Mein Salon beherbergte eine griechische Statue, den von Kaiser Hadrian abgöttisch verehrten Antinous, jenen prachtvollen jungen Mann, der sich einst aus Schwermut in die Wasser des Nils gestürzt hatte. An diesem Nachmittag war er unversehrt den grünen Fluten der Nordsee entstiegen. Mich schauderte.
    Er missverstand meine Reaktion.
    »Sie frieren wegen mir! Es tut mir aufrichtig leid.«
    »Nein, nein, nicht der Rede wert. Ich mache gleich ein Feuer an.«
    »Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe?«
    »Finger weg! Solange Sie nicht herausgefunden haben, wie man sich in diese Decken hüllt, ohne Gefahr zu laufen, sich schämen zu müssen, rate ich Ihnen, brav auf meinem Sofa sitzen zu bleiben.«
    Ich tat mich sonst schwer mit dem Feueranzünden, aber jetzt ging es wie von selbst, und die Flammen leckten schnell an den Holzscheiten, während ich uns Tee einschenkte.
    »Ich schulde Ihnen eine Erklärung«, sagte er, den ersten Schluck genießend.
    »Sie schulden mir nichts, und im Übrigen habe ich etwas gegen Erklärungen.«
    »Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?«
    »Ich weiß es nicht. Sagen wir einmal, Sie sind heute Nachmittag geboren worden, als sie dem Wasser entstiegen.«
    »Oder aber?«
    »Sie waren gerade mit einer Fracht Sklaven Richtung Amerika unterwegs, als Piraten angriffen und das Schiff vor Ostende sank; aber Sie, Sie konnten sich wie durch ein Wunder Ihrer Ketten entledigen und bis ans Ufer schwimmen.«
    »Warum bin ich versklavt worden?«
    »Ein furchtbares Missverständnis. Ein Justizirrtum.«
    »Ah, ich sehe, Sie sind auf meiner Seite.«
    »Voll und ganz.«
    Erheitert zeigte er auf die vielen Bücher, die uns umgaben.
    »Sie lesen?«
    »Ja, ich habe vor einigen Jahren das Alphabet gelernt und mache hin und wieder Gebrauch davon.«
    »Diese lebhafte Phantasie haben Sie doch nicht zusammen mit dem Alphabet erworben …«
    »Man hat sie mir so oft vorgehalten, meine Phantasie. Als wäre sie ein Makel. Wie denken Sie darüber?«
    »Bei Ihnen finde ich sie wunderbar«, flüsterte er mit einem verwirrenden Lächeln.
    Ich verstummte. Meine Inspiration hatte mich schlagartig verlassen und wich einer inneren Unruhe. Was zum Teufel stellte ich da mutterseelenallein in meinem Haus mit einem Unbekannten an, den ich nackt im Gebüsch angetroffen

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