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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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hatte? Logischerweise hätte ich Angst haben müssen. Tief in meinem Inneren hatte ich das Gefühl, einer Gefahr zu trotzen.
    Ich versuchte, das Ganze etwas nüchterner anzugehen.
    »Wie lange haben Sie da eigentlich in den Dünen nach jemandem Ausschau gehalten?«
    »Stunden. Bevor Sie kamen, hatte ich es bereits bei zwei Spaziergängerinnen versucht. Sie haben die Flucht ergriffen, ehe ich ihnen auch nur irgendetwas hätte erklären können. Ich habe sie erschreckt.«
    »Ihre Aufmachung vielleicht?«
    »Ja, meine Aufmachung. Dabei ging es doch nun wirklich nicht noch einfacher.«
    Wir lachten herzlich.
    »Es ist alles meine Schuld«, fuhr er fort. »Ich habe mich für einige Wochen nicht weit von hier mit meiner Familie einquartiert, und heute Mittag verspürte ich das Verlangen, baden zu gehen. Ich habe meinen Wagen hinter den Dünen geparkt, an einer Stelle, die man ohne weiteres wiedererkennen konnte, und dann, da weit und breit kein Mensch zu sehen war, aber wirklich kein Mensch, habe ich meine Kleider unter einen Stein gelegt und bin lange geschwommen. Als ich wieder an Land kam, habe ich weder den Stein noch meine Kleider oder meinen Wagen finden können.«
    »Davongeflogen? Gestohlen?«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich nach dem Schwimmen an derselben Stelle gelandet bin, denn ich habe alles nur vage wiedererkannt. Was ähnelt Sand mehr als Sand?«
    »Und einem Fels mehr als ein Fels?«
    »Genau! Daher habe ich Ihnen auch nicht vorgeschlagen, meinen Wagen hinter den Dünen zu suchen, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er ist.«
    »Zerstreut?«
    »Ich konnte ihm einfach nicht widerstehen, diesem Verlangen, nackt im Meer zu treiben. Diese grenzenlose Weite.«
    »Ich kann Sie verstehen.«
    Und es stimmte: Ich verstand ihn. Er musste, wie ich, eine einsame Seele sein, um in der Natur so überschwänglich zu fühlen. Dennoch beschlich mich ein Zweifel.
    »Hatten Sie die Absicht zurückzukommen?«
    »Als ich ins Wasser ging, ja. Als ich schwamm, nein. Ich wünschte, es würde nie aufhören.«
    Er sah mich aufmerksam an und fügte langsam hinzu:
    »Ich bin nicht selbstmordgefährdet, wenn das der Sinn Ihrer Frage war.«
    »Das war er.«
    »Ich flirte mit der Gefahr, ich vibriere, wenn ich mich in Gefahr begebe, eines Tages werde ich zweifellos etwas definitiv Unbedachtes tun, aber ich verspüre keinerlei Verlangen zu sterben.«
    »Eher ein Verlangen zu leben?«
    »Richtig.«
    »Und zu fliehen …«
    Gerührt über meine Bemerkung, zog er die Decke ein Stück höher um sich, als wollte er sich vor meinem Scharfblick, der ihm peinlich war, schützen.
    »Wer sind Sie?«, fragte er.
    »Was glauben Sie?«
    »Meine Retterin«, murmelte er lächelnd.
    »Und was noch? Lassen Sie uns doch einmal sehen, wie es um Ihre Phantasie bestellt ist.«
    »Oh, ich glaube, ich beherrsche nur das Alphabet, an Phantasie, da fehlt es mir.«
    »Was spielt es schon für eine Rolle, wer wir sind? Sie sind nur eine prachtvolle lebende Statue, die ich am Strand aufgesammelt habe, auftaue und anziehen werde, um Sie bald Ihrer Frau zurückzugeben.«
    Er runzelte die Brauen.
    »Was reden Sie da von meiner Frau? Ich bin nicht verheiratet.«
    »Verzeihen Sie, aber eben noch haben Sie von Ihrer …«
    »Familie gesprochen. Ich bin mit meiner Familie hier. Eltern, Onkels, Cousins.«
    Wie dumm von mir! Ich hatte gedacht, er sei verheiratet, hatte ihm nur deshalb gesagt, wie wunderbar er sei, und war nun so verlegen, als wäre ich jetzt die Schamlose und stünde nackt vor ihm. Er hielt den Kopf ein wenig schräg und sah mich aufmerksam an.
    »Und Sie … Ist Ihr Mann nicht hier?«
    »Nein. Nicht im Augenblick.«
    Er erwartete eine ausführlichere Antwort. Ich musste mir etwas einfallen lassen, stand daher rasch auf und machte mir am Kamin zu schaffen … Es verwirrte mich, dass mir dieser Mann so sehr gefiel. Ich hatte es nicht eilig, ihn loszuwerden; zugleich konnte ich mich nicht entschließen, ihm zu gestehen, dass ich dieses Haus allein bewohnte. Wenn er die Situation ausnutzte … Aber wozu? Um mich zu verführen, ich hatte nichts dagegen. Um mich zu bestehlen? In Anbetracht seiner Aufmachung war er der Bestohlene und nicht der Stehlende. Um mich zu misshandeln? Er war nicht gewalttätig, nein, kaum anzunehmen.
    Als ich mich umwandte, fragte ich ihn abrupt:
    »Sind Sie gefährlich?«
    »Kommt darauf an für wen … Für Fische, Hasen und Fasane, ja, zumal ich angele und jage. Davon abgesehen …«
    »Ich kann Jäger nicht

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