Die Träumerin von Ostende
bei ihrem Prozess als untröstliche Heldin auf, als Opfer einer infamen Beschuldigung.
Vom ersten Verhandlungstag an zeichnete sich ein Konsens zu ihren Gunsten ab. Am zweiten sprachen die Reporter bereits von einer unbegründeten Anschuldigung. Am dritten weinten wildfremde Menschen heiße Tränen in der letzten Reihe des überfüllten Gerichtssaals und ergriffen Partei für die zu Unrecht beschuldigte Frau. Am vierten erschienen ihre Kinder immer wieder in den diversen Fernsehnachrichten, um ihre Erschütterung und Empörung auszudrücken.
Gabrielle ging durch die Verhöre und wohnte der Befragung der Zeugen mit angespannter Aufmerksamkeit bei; sie achtete darauf, dass nichts, was sie oder die anderen sagten, ihrer Version widersprach. Man hätte glauben können, ein Komponist verfolge, mit der Partitur auf den Knien, gewissenhaft die Proben für die Aufführung seines Werkes.
Wie vorauszusehen, gab der Hirte während seiner Zeugenaussage ein überaus schwaches Bild ab. Sein Französisch war nicht nur rudimentär – und in diesem Land verraten eine fehlerhafte Syntax oder Ausdrucksweise mehr als nur mangelhafte Bildung, sie sind ein verbaler Angriff auf die gesamte Gesellschaft, kommen einer Verhöhnung des nationalen Sprachkults gleich –, und damit nicht genug, dieser Mensch beklagte sich auch noch ausgiebig darüber, dass er das Geld für den Fahrschein »rauf nach Compiègne« hatte vorstrecken müssen. Von Maître Plissier befragt, war er so ungeschickt einzuräumen, dass er Gabrielle de Sarlat »von ihrem Foto in den Zeitungen« her kannte. Und seine Begründung, weshalb er es unterlassen hatte, dem Verunglückten sofort zu Hilfe zu eilen, war schändlich: »Is doch klar, so einer is nach so ’nem Sturz nur noch Matsch, da muss man doch nich hin un nachsehn, ich bin doch nich blöd, ne, wirklich«.
Mit Ausnahme des Hirten bestätigten alle und alles Gabrielles Unschuld. Am vorletzten Tag ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Deshalb hatte sie auch nicht damit gerechnet, dass die Aussage des Hausarztes der Familie sie derart erschüttern würde.
Dr. Pascal Racan, ein treuer Freund des Ehepaars Sarlat, erzählte einige harmlose Anekdoten aus dem Leben von Gab und Gaby, darunter auch folgende:
»Ich habe selten ein so liebevolles Paar gesehen. Wenn einer etwas unternahm, dann tat er das nicht für sich, sondern für den anderen. Gaby zum Beispiel wollte ihrem Mann weiterhin gefallen, trieb daher auch Sport und holte sich bei mir Ratschläge zur Ernährung ein. Gab, obgleich schlank, ja, hager, litt an Bluthochdruck und machte sich Sorgen; nicht wegen seiner Krankheit, die man mit Medikamenten gut in den Griff bekommt, sondern wegen der Nebenwirkungen, die sie haben. Wie Sie wissen, verringern Betablocker sowohl die Libido als auch den sexuellen Appetit. Gab sprach häufig mit mir darüber, da er fürchtete, seine Frau könne denken, er begehre sie nicht mehr. Was nicht stimmte, er verspürte nur seltener Lust. Ich habe nie einen Mann erlebt, den dies so beschäftigt hätte. Nie jemanden, der so sehr um seine Gefährtin bemüht war. In solchen Fällen denken die meisten Männer nur an sich selbst und an ihre Gesundheit, und wenn sie feststellen, dass ihr Verlangen nachlässt, kommt ihnen das durchaus gelegen, es verringert die Anzahl ihrer außerehelichen Beziehungen. Sie sind hocherfreut, dass sie weniger aus moralischen als vielmehr aus gesundheitlichen Gründen zur Tugendhaftigkeit angehalten sind. Gab hingegen dachte nur daran, wie Gaby dies aufnehmen würde.«
Als Gabrielle dieses ihr bisher unbekannte Detail hörte, begann sie hemmungslos zu weinen. Sie versprach, sich wieder zu fangen, was ihr jedoch nicht gelang. Daraufhin ersuchte Maître Plissier das Gericht, die Verhandlung zu unterbrechen. Seinem Ersuchen wurde stattgegeben.
Die Leute im Saal glaubten, den Grund für Gabrielles tiefe Erschütterung zu verstehen. Sie gestand Maître Plissier zwar nichts, bat ihn aber, sobald sie wieder sprechen konnte:
»Bitte, ich habe das Gefühl, ich versinke, ich halte das nicht mehr aus … Könnten Sie meine älteste Tochter wohl um einen Gefallen bitten?«
»Selbstverständlich.«
»Sie möchte mir heute Abend die vier Konfektschachteln ins Gefängnis bringen, die sich auf dem kleinen Beistelltisch im Zimmer ihres Vaters befinden. Sie wird verstehen, wovon ich rede.«
»Ich bin nicht sicher, ob sie Ihnen das im Besucherraum übergeben darf.«
»Oh, ich flehe Sie an, ich bin am Ende meiner
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