Die Träumerin von Ostende
Kräfte.«
»Aber, aber, ich bitte Sie, nur noch vierundzwanzig Stunden. Morgen ist der letzte Tag, der Tag der Plädoyers. Am Abend wissen wir Bescheid.«
»Ich weiß nicht, was morgen entschieden wird, und auch Sie wissen es nicht, trotz Ihrer Zuversicht und Ihres Talents. Bitte, Maître, ich kann nicht mehr, ich werde noch eine Dummheit begehen.«
»Ich weiß nicht, wie diese Konfektschachteln …«
»Bitte, ich bin am Ende, ich garantiere für nichts mehr.«
Er begriff, dass sie ihm ernsthaft drohte, sich umzubringen. Als er sah, in welcher Verfassung sie war, fürchtete er, sie könnte nicht durchhalten bis zum Ende des Prozesses, den er zu gewinnen glaubte – ein Meilenstein in seiner Karriere –, und er bekam Angst; er durfte jetzt keinen Fehler begehen und schwor, seiner Mandantin höchstpersönlich die Schachteln zu bringen, um die sie bat. Sei’s drum, er nahm das Risiko auf sich!
Zu seiner großen Überraschung, denn er war solche Gefühlsausbrüche von ihr nicht gewohnt, packte ihn Gabrielle bei den Schultern, umarmte und küsste ihn.
Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen, aber Gabrielle hörte nicht mehr zu, sie dachte nur noch an die Aussage des Arztes, an die Schachteln und ihr Geheimnis, an den »Auslöser« und an das, was sie seit zweieinhalb Jahren verschwieg.
Als sie wieder im Polizeiwagen saß, der sie zurück ins Gefängnis brachte, streckte sie ihre Beine aus und dachte nach.
Sie hatte so viele Leute über sich und ihn reden hören, ohne dass diese wirklich etwas wussten, dass sie selbst ganz durcheinanderkam.
Warum noch hatte sie ihn umgebracht?
Wegen des »Auslösers« … Sollte sie sich etwa getäuscht haben?
Im Gefängnis bat sie um die Erlaubnis, ausnahmsweise duschen zu dürfen. Aufgrund ihrer guten Führung und der Nachsicht, mit der die Medien über ihren Fall berichteten, wurde ihrem Anliegen stattgegeben.
Sie stahl sich unter das nahezu kochende Wasser. Sich waschen! Sich reinwaschen von dem Unsinn, den sie in den letzten Tagen gesagt oder gehört haben mochte. Sich zurückbesinnen auf das, was passiert war, auf den »Auslöser« …
Den »Auslöser« hatte Paulette verursacht … Als die große schlaksige Frau mit den maskulinen Zügen sich mit ihrem Mann in Senlis niederließ, kam sie häufig in Gabrielles Geschäft, um Möbel und Dekorationsgegenstände für ihr neues Haus auszusuchen. Auch wenn Gabrielle Paulette in ihrer schillernd bunten, an einen brasilianischen Papagei erinnernden Kleidung und wegen ihrer Ausdrucksweise zunächst als vulgär empfand, hatte sie doch ihren Spaß an ihr als Kundin. Sie schätzte ihr loses Mundwerk, ihre freche Schlagfertigkeit und dass es ihr einerlei war, was andere dachten. Sie hatte sie mehrere Male vor ihren Angestellten oder vor entsetzten Kunden in Schutz genommen. Kurz, Paulette stand bei ihr hoch im Kurs, verfügte sie doch zudem über einen ausgeprägten Spürsinn für unsaubere Geschäfte. Misstrauisch und scharfblickend, machte sie Gabrielle nicht nur auf Leute aufmerksam, die mit unechten Opalen handelten, sondern auch auf eine Bande, die alte Kamineinfassungen klaute; vor allem aber kam sie mit einem einzigen Blick den Lastern und Geheimnissen ihrer Mitmenschen auf die Spur, obskuren Fällen von Verderbtheit, von denen Gabrielle entweder nichts wusste oder erst nach Jahren erfahren hatte. Zutiefst beeindruckt von Paulettes seherischen Fähigkeiten, saß sie oft und gern mit ihr zusammen im Laden.
Eines Tages, sie unterhielten sich gerade, bemerkte Gabrielle Paulettes finsteren Blick. Wie ein Vogel verfolgte sie unverwandt aus den Augenwinkeln jede einzelne Bewegung eines Mannes, der hereingekommen war. Das Objekt ihrer Aufmerksamkeit war Gab, den sie noch nicht kannte. Innerlich amüsiert und neugierig, was Paulette zu ihm sagen würde, verschwieg sie ihr, dass dieser Eindringling ihr vergötterter Ehemann war.
Auch wenn sie immerzu weiterplauderten, bemerkte Gabrielle sehr wohl, dass Paulette Gab nicht eine Sekunde lang aus den Augen ließ.
»Was denkst du?«, fragte Gabrielle unvermittelt und blinzelte in Gabs Richtung.
»Der da? Du liebe Güte. Ein ausgemacht falscher Fünfziger. Zu höflich, um ehrlich zu sein. Ein Heuchler vor dem Herrn, schlimmer geht’s nicht.«
Gabrielle war so verwirrt, dass es ihr die Sprache verschlug, bis Gab schließlich auf sie zugeeilt kam, sie küsste und Paulette begrüßte.
Als Letztere ihren Schnitzer bemerkte, reagierte sie umgehend und entschuldigte sich am
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