Die Träumerin von Ostende
nächsten Tag bei Gabrielle für ihre Äußerungen über Gab, doch zu spät: Der Wurm saß bereits im Apfel.
Von diesem Augenblick an sah Gaby Gab mit anderen Augen. Wenn Paulette dergleichen sagte, dann hatte sie ihre Gründe: Sie täuschte sich nie! Gaby beobachtete Gab plötzlich wie einen Fremden und bemühte sich, alles, was sie von ihm wusste oder zu wissen glaubte, zu vergessen. Und schlimmer noch, sie versuchte, Paulettes Urteil bestätigt zu sehen.
Was zu ihrer großen Überraschung nicht schwer war.
Gab de Sarlat war galant, höflich und stets hilfsbereit, er kleidete sich nachlässig wie ein Gentleman Farmer, ging regelmäßig in die Messe, neigte nicht sonderlich zu sprachlichen oder gedanklichen Exzessen und konnte ebenso faszinieren wie nerven. Konservativ in dem, was er fühlte, was er sagte und wie er sich gab – ja, selbst in seiner äußeren Erscheinung –, zog er die einen aus dem gleichen Grund an, wie er die anderen abstieß, von denen es allerdings nicht viele gab: Er sah perfekt aus, ideal.
Durch Paulettes unbarmherzigen Instinkt in den Geruch der Fragwürdigkeit gekommen, stellte Gab für Gabrielle mit einem Mal das gleiche Problem dar wie zwei, drei Möbel in ihrem Leben als Antiquitätenhändlerin: Original oder Imitation? Man konnte ihn ebenso für einen ehrenwerten, aufrichtigen, um seinen Nächsten besorgten Mann halten wie für einen Betrüger.
Nach einigen Wochen war Gabrielle davon überzeugt, dass sie mit einem Hochstapler zusammenlebte. Wenn sie Gabs Qualitäten der Reihe nach auflistete und die Karte dann umdrehte, entdeckte sie, was wirklich dahintersteckte. Seine ruhige Ausstrahlung? Der Panzer eines Heuchlers. Seine Zuvorkommenheit? Ein Weg, seine hyperaktive Libido zu kanalisieren und künftige Opfer anzulocken. Sein liebevoller Umgang mit Gabrielles Stimmungsschwankungen? Nichts als abgrundtiefe Gleichgültigkeit. Seine Liebesheirat, die gewagte Verbindung eines Adeligen mit einer Bürgerlichen? Schnöde Berechnung. Sein katholischer Glaube? Ein weiterer Tweedanzug unter dem Deckmantel der Ehrenhaftigkeit. Seine moralischen Werte? Worte, um seine Triebhaftigkeit zu verbergen. Plötzlich schöpfte sie Verdacht, vielleicht war seine Hilfe im Geschäft – die Möbel, die er transportierte, abholte und anlieferte – ja nur ein Alibi, dazu bestimmt, sich den nötigen Freiraum zu schaffen, um unauffälliger seine eigenen Wege gehen zu können? Und wenn er sich bei diesen Gelegenheiten mit seinen Geliebten traf?
Warum ließ sich Gabrielle nach siebenundzwanzig Jahren Liebe und Verlässlichkeit von Misstrauen vergiften? Die boshaften Äußerungen Paulettes erklärten nicht alles; zweifellos war es für Gabrielle mit zunehmendem Alter schwer, die Veränderungen zu akzeptieren, denen ihr Körper unterworfen war, sie kämpfte mit ihrem Gewicht, ihren immer tieferen Falten, fühlte sich häufig erschöpft, und an ihren früher so schönen Beinen platzten die Äderchen … Wenn sie so leicht an Gab zweifelte, dann auch, weil sie an sich selbst zweifelte, an ihrer Anziehungskraft. Sie ereiferte sich, weil er besser alterte als sie, weil er noch immer gefiel, weil ihm die jungen Mädchen spontaner zulächelten als die jungen Männer Gabrielle. In Gesellschaft, auf dem Marktplatz, am Strand oder auf der Straße nahmen ihn die Leute noch immer wahr, Gabrielle hingegen war durchsichtig geworden.
Vier Monate nach Paulettes »Auslöser« konnte Gabrielle Gab nicht mehr ertragen. Und auch sich selbst nicht: Jeden Morgen zeigte ihr der Spiegel eine Fremde, die sie verabscheute, eine füllige Frau mit dickem Hals, die Haut von blauroten Äderchen durchzogen, mit aufgesprungenen Lippen, schlaffen Armen und einem scheußlichen Wulst unter dem Nabel, der, selbst wenn sie hungerte, nicht kleiner wurde. Auch ihre Diäten trugen nicht dazu bei, sie heiterer zu stimmen. Sie machte sich nichts vor, so etwas konnte Gab nicht mögen! Wer könnte das schon? Niemand!
Und so empfand sie jede liebevolle Geste, jedes Lächeln, jede Aufmerksamkeit, jede Freundlichkeit oder Zärtlichkeit, alles, was Gab ihr entgegenbrachte, als eine Kränkung. Was für ein Heuchler! Paulette hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Er war scheinheiliger als scheinheilig, geradezu ein Musterexemplar. Einfach widerwärtig! Ein schmieriger Schönredner!
Ehrlich war er nur, wenn er sie »meine Alte« nannte, auch wenn er dies liebevoll tat. Das, versteh einer warum, das rutschte ihm eben so raus! Und wann immer dies
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