Die Träumerin von Ostende
etwas bewusst nicht sagte. Die Musiker empfanden ihn als aufrichtig. Sie deuteten seine Worte nach Belieben. Die Selbstgefälligen sahen in ihm den leidenschaftlichen Bewunderer, und die Scharfblickenderen schätzten seine Höflichkeit. Paul Chapelier sagte mehr als einmal zu seiner Tochter: »Für einen guten Lügner ist mein Gedächtnis nicht gut genug.« Da er nur die Wahrheit sagte und es wohlweislich vermied, Ärger zu erregen, war es ihm gelungen, sich nie in Widersprüche zu verwickeln und in einem nichtsdestotrotz menschenfresserischen Milieu Freundschaften zu schließen.
Gabrielle machte während ihrer zweieinhalbjährigen Untersuchungshaft von seiner Methode Gebrauch. Wenn sie von Gab sprach, dann immer nur von der glücklichen gemeinsamen Zeit, der Zeit intensiver gegenseitiger Liebe. Er hieß Gabriel, sie Gabrielle; zusammen wurden sie Gab und Gaby. Die Zufälle des Lebens und das Standesamt machten ihnen ein seltenes Geschenk; nach ihrer Hochzeit konnten sie den, bis auf eine Silbe, gleichen Namen tragen: Gabriel(le) de Sarlat. Wie Gabrielle erklärte, drückte dieser gleichlautende Name die Kraft ihrer Zweisamkeit aus, die Beständigkeit ihrer Verbindung. Den Beamten, die bezahlt wurden, um sie anzuhören, erzählte Gabrielle von ihrer Liebe auf den ersten Blick für diesen jungen Mann, den sie für schüchtern hielt und der in Wirklichkeit nur gut erzogen war. Sie erzählte von ihrer langen Liebelei, von ihren Eskapaden und wie er schließlich bei ihrem Künstlervater, den er bewunderte, verlegen um ihre Hand anhielt; sie erzählte von der Trauungszeremonie in der Kirche La Madeleine in Paris, wo ein ganzes Symphonieorchester aufspielte, und beschwor, ohne dass man sie danach gefragt hätte, die unvermindert starke Anziehungskraft von Gabs makellosem, elegantem Körper, dem Fett und überschüssige Kilos auch jenseits der fünfzig nichts anhaben konnten, als sei Schlankheit eine aristokratische, gleichsam mit dem Adelsprädikat angeborene Qualität. Sie betete ihr Glück herunter wie einen endlosen Rosenkranz: die Kinder, die Hochzeiten der Kinder, die Geburten der Enkel und, ungeachtet der Zeit, die verging, ein Mann, innerlich wie äußerlich intakt und mit einem intakten Blick auf sie, stets um sie bemüht, ein Mann, der sie achtete und begehrte. Hin und wieder fiel ihr auf, dass sie bei ihren Zuhörern ein gewisses Unbehagen auslöste, eine an Eifersucht grenzende Irritation; bis der Untersuchungsrichter eines Tages ungehalten seufzte:
»Was Sie mir da erzählen, Madame, ist zu schön, um wahr zu sein.«
Sie betrachtete ihn mitleidig und murmelte:
»Sagen Sie lieber, es ist zu schön für Sie, Monsieur.«
Verlegen insistierte er nicht weiter. Zumal alle, die dem Ehepaar nahestanden – Kinder, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, Freunde und Nachbarn –, deren idyllische Liebe bestätigten. Um das Ermittlungsverfahren abzuschließen, bestand die Beschuldigte zweimal erfolgreich den Test mit dem Lügendetektor.
Die Haft hatte bei Gabrielle zur Vereinsamung geführt, der sie nur durch die Flucht in ihre Erinnerungen entkam. Daher nahm Gab einen immer wichtigeren und wahnhafteren Platz in ihrem neuen Leben als Gefangene ein. Entweder sprach sie über ihn, oder sie dachte an ihn. Gleich ob sie allein oder in Gesellschaft war, er war zugegen, er und nur er, freundlich, tröstlich. Treu.
Das Problem war, dass sie schließlich selbst glaubte, was sie sagte. Da sie die letzten drei Jahres ihres Lebens mit Gab verheimlichte und nur jene siebenundzwanzig glücklichen Jahre offenlegte, verstand Gabrielle immer weniger, was passiert war, was sie so verändert hatte. Sie konnte sich kaum noch an den »Auslöser« erinnern, an diesen Satz, der sie hatte aufhorchen lassen … Besser, sie dachte nicht mehr daran, wozu auch! Die Gaby, die aufgrund des »Auslösers« fähig gewesen war, ihren Mann zu töten, diese Frau, die Mörderin, durfte es bis zum Freispruch nicht mehr geben; und somit ertränkte Gabrielle sie in einem Brunnen des Vergessens, verdrängte alle Beweggründe, die sie veranlasst hatten, Gab umzubringen, und verbannte diesen Bereich aus ihrem Kopf.
Da sie fortgesetzt an Gab dachte, wurde sie wieder zu der liebevollen und geliebten Gabrielle, außerstande, Hand an ihren Mann zu legen. Wie eine Schauspielerin, die gezwungen ist, sich mit der Person, die sie verkörpert, auseinanderzusetzen, sich schließlich mit ihr identifiziert und atemberaubend echt am Set erscheint, trat Gabrielle
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