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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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hat er niemanden benachrichtigt? Hätte er rechtzeitig gehandelt, wäre mein Mann vielleicht noch am Leben …«
    Verärgert, dass sie die Arbeit ihres Anwalts erledigen musste, beschloss sie, sich aufs Weinen zu verlegen, und schluchzte gute zehn Minuten lang.
    Als sie damit fertig war, entschied Maître Plissier sichtlich betroffen, ihren Worten fortan Glauben zu schenken. Sie aber verachtete ihn nur noch mehr für diesen plötzlichen Gesinnungswandel. Sich von ein paar Schluchzern so täuschen zu lassen, was für ein Dummkopf! Wenn Männer es mit einer resoluten Frau zu tun haben, sind sie im Grunde überall auf der Welt gleich hilflos.
    Der Kommissar kam zurück und nahm sein Verhör wieder auf. Er stellte ihr die gleichen Fragen wie der Anwalt, und Gabrielle gab die gleichen Antworten, nur in einem weniger harschen Ton.
    Da der Kommissar ausgefuchster war als der Anwalt und Motive materieller Art bereits ausgeschlossen hatte, kam er erneut auf die Beziehung von Gabrielle und Gab zu sprechen.
    »Seien Sie aufrichtig, Madame Sarlat, wollte Ihr Mann Sie vielleicht verlassen? Hatte er eine Geliebte? Mehrere? War Ihre Ehe so intakt wie früher? Gab es nichts, das Sie ihm hätten vorwerfen können?«
    Gabrielle begriff, dass ihr Schicksal von dieser Grauzone abhing, und entschied sich für eine Taktik, die sie bis zum Schluss beibehielt.
    »Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen, Herr Kommissar. Gab und ich waren das glücklichste Paar auf dieser Welt. Er hat mich nie betrogen. Ich habe ihn nie betrogen. Versuchen Sie jemanden zu finden, der das Gegenteil behauptet. Es wird Ihnen nicht gelingen. Nicht nur, dass ich meinen Mann mehr als alles auf der Welt geliebt habe, ich werde auch nicht über seinen Tod hinwegkommen.«
    Wenn Gabrielle in diesem Augenblick gewusst hätte, wohin diese Verteidigungstaktik sie wenige Monate später führen sollte, vielleicht wäre sie nicht ganz so stolz auf ihren Einfall gewesen …
     
    Zweieinhalb Jahre.
    Gabrielle wartete zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft auf ihren Prozess.
    Ihre Kinder versuchten mehrmals, eine vorläufige Freilassung unter Berufung auf die Unschuldsvermutung zu erwirken. Der Richter aber lehnte aus zwei Gründen ab, einem wesentlichen und einem unwesentlichen: Der erste war die belastende Zeugenaussage des Hirten, der zweite betraf die wachsenden Polemiken in den Zeitungen hinsichtlich der Laxheit von Richtern und Staatsanwälten.
    Obgleich der Gefängnisalltag hart war, behielt Gabrielle ihre Zuversicht. So, wie sie darauf gewartet hatte, von ihrem Mann befreit zu werden, wartete sie jetzt darauf, dass man sie von dieser Anklage freisprach. Sie war schon immer geduldig gewesen – eine unerlässliche Eigenschaft, wenn man im Antiquitätenhandel arbeitete – und war entschlossen, sich durch dieses Missgeschick nicht entmutigen zu lassen.
    In ihrer Zelle dachte sie oft an die Schachteln, die sie auf dem Beistelltisch zurückgelassen hatte, die Schachteln, die Gabs Geheimnis enthielten … Welche Ironie! Was hatte sie nicht alles getan, um an sie heranzukommen, und dann war sie, sie hatte die Hand bereits auf dem Deckel gehabt, davon abgehalten worden. Sobald die Richter sie reingewaschen hätten, würde sie dem Geheimnis dieser Konfektschachteln auf die Spur kommen. Als Belohnung sozusagen.
    Maître Plissier zufolge ließ sich ihr Verfahren gut an: Die Ermittlungen verliefen zu ihren Gunsten; alle Zeugen, mit Ausnahme des Hirten, traten als Entlastungszeugen auf und saßen hinter der Bank der Verteidigung; und je weiter die Verhöre fortschritten, umso überzeugender wirkte Gabrielle auf die Anwesenden, vom Kommissar bis hin zum Untersuchungsrichter.
    Da Gabrielle sich bestens aufs Lügen verstand, genügte es, die Wahrheit zu sagen. Das hatte sie von ihrem Vater, Paul Chapelier, gelernt, den sie als Kind auf seinen Tourneen begleitete. Wenn der talentierte Dirigent seine Musiker nicht selbst dirigierte, wohnte er anderen Konzerten bei. Aufgrund seiner Berühmtheit sah er es als seine Pflicht an, am Ende der Darbietung hinter die Kulissen zu gehen und die Künstler zu beglückwünschen. Bestrebt, die Kollegen, mit denen er bereits gespielt hatte oder noch spielen könnte, nicht zu kränken, äußerte er sich stets nur zu dem, was ihm gefallen hatte, er vermied negative Kritik, kaprizierte sich auf das Positive, und war auch nur ein winziges Detail des Lobes würdig, nahm er sich dessen an, unterstrich es, hob es hervor. Er log somit nie, es sei denn, weil er

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