Die Träumerin von Ostende
sie sollte zehn, zwanzig, dreißig Jahre warten, um den Beweis zu haben, dass er sich sein Leben lang über sie lustig gemacht und sie ihr Leben mit einem hinterhältigen Aufsteiger verbracht hatte! Wollte er sie etwa provozieren?
»Du bist so still in letzter Zeit, meine Liebe«, sagte Paulette, als sie zusammen Tee tranken.
»Ich behalte meine Probleme für mich. Ich bin so erzogen. Mein Vater hat mir eingetrichtert, dass man nur positive Gedanken äußern soll; die anderen behält man lieber für sich.«
»Was für ein Blödsinn! Du musst dich öffnen, aus dir rausgehen, Schatz, sonst kriegst du noch Krebs. Ich werde nie Krebs kriegen, ich schimpfe und meckre den lieben langen Tag. Ist mir schnurzegal, ob ich die anderen verrückt mache oder nicht: Mir ist lieber, die anderen leiden als ich.«
Und so nahm Gabrielles Plan Gestalt an. Sie musste sich von allen Zweifel befreien, mit anderen Worten, Gab beseitigen. Ein Plan, den sie in den Alpen ausführen würde.
Mit noch feuchtem Haar wurde Gabrielle zurück in ihre Zelle gebracht und warf sich dort auf ihr Bett, um weiter ihren Gedanken nachzuhängen. Das also hatte sich in den letzten drei Jahren ihrer Ehe in ihrem Hirn abgespielt, das also verbarg sie vor allen, so also hatte ihr Leben sein Salz und seinen Sinn verloren und war zu einem nicht enden wollenden Albtraum geworden. Indem sie Gab tötete, hatte sie zumindest gehandelt, hatte dieser unerträglichen inneren Unruhe ein Ende gesetzt. Sie bereute es nicht. Doch die Aussage des Arztes heute Nachmittag hatte sie zutiefst betroffen gemacht: Sie hatte erfahren, warum Gabs Verlangen nicht mehr so stark wie früher war und wie er selbst darunter litt. Das hatte sie in den Grundfesten ihrer Überzeugung erschüttert.
Warum erfuhr sie erst jetzt davon? Sie hatte immer gedacht, er meide sie, um sich seine Kraft für seine Geliebten aufzusparen. Hätte dieser unverantwortliche Dr. Racan nicht früher mit ihr sprechen können?
»Gabrielle de Sarlat, bitte in den Besucherraum. Ihr Anwalt erwartet Sie.«
Es hätte nicht besser kommen können.
Maître Plissier hatte die vier Blechschachteln auf den Tisch gestellt.
»Hier! Und jetzt erklären Sie mir.«
Gabrielle sagte nichts. Sie setzte sich und öffnete begierig die Deckel. Ihre Finger durchwühlten die Papiere in den Schachteln, nahmen ein paar heraus, um sie zu entziffern, dann andere und wieder andere …
Nach einigen Minuten fiel Gabrielle, nach Atem ringend, kraftlos vom Stuhl. Maître Plissier alarmierte die Aufseherinnen, die ihm halfen, die Gefangene bequem hinzulegen, und dafür sorgten, dass sie wieder Luft bekam. Man brachte sie auf einer Bahre in die Krankenstation, wo man ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte.
Als sie nach einer Stunde wieder normal atmen konnte, fragte sie nach ihrem Anwalt. Man sagte ihr, er sei mit den Schachteln fortgegangen, um sich auf die Verhandlung vorzubereiten.
Nachdem Gabrielle flehentlich um ein weiteres Beruhigungsmittel gebeten hatte, fiel sie in Ohnmacht, nur um nicht daran denken zu müssen, was die Blechschachteln enthielten.
Am nächsten Tag wurden die Plädoyers gehalten. Gabrielle glich nur noch einem schwachen Abbild ihrer selbst. Sie sah blass und müde aus, wirkte verstört, ihre Augen waren verweint, ihre Lippen blutleer. Hätte sie die Geschworenen milde stimmen wollen, sie hätte es nicht besser machen können.
Der Staatsanwalt hielt eine eher eigenwillige als harsche Anklagerede, die kaum beeindruckte. Anschließend erhob sich mit flatternden Ärmeln Maître Plissier wie ein Solist, den man für sein Bravourstück auf die Bühne gerufen hatte.
»Was ist geschehen? Ein Mann ist in den Bergen umgekommen. Lassen wir den Sachverhalt einmal beiseite und wenden uns den beiden konträren Äußerungen zu, aufgrund derer wir heute hier vor Gericht sind: Ein Unfall, sagt die Ehefrau des Toten. Ein Mord, behauptet ein Fremder, ein Hirte. Doch lassen Sie uns ein wenig Abstand nehmen, lassen Sie uns zurücktreten, weit, immer weiter, bis wir ungefähr da stehen, wo der Hirte stand, wenn es denn möglich ist, aus einer solchen Entfernung noch etwas zu erkennen, und suchen wir jetzt nach den Motiven für einen Mord. Es gibt sie nicht! Es fällt mir im Allgemeinen nicht leicht, meinen Anwaltsberuf auszuüben, denn ich muss Menschen verteidigen, gegen die alles spricht. Im Falle von Gabrielle de Sarlat aber spricht nichts gegen ihre Person, rein gar nichts! Es gibt keinerlei Motive. Weder Geld noch
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