Die Träumerin von Ostende
einen Ehekonflikt oder Untreue. Nichts spricht gegen sie. Doch einer klagt sie an. Ein Mann. Nun, ein Mann, der mit Tieren lebt, ein Bursche, der weder lesen noch schreiben kann, einer, der gegen das Schulsystem rebelliert, der unfähig ist, sich in die Gesellschaft einzugliedern, ein Einzelgänger. Kurz, dieser Hirte, ein Angestellter, dem ich leicht etwas zur Last legen könnte, da er von mehreren Arbeitgebern entlassen wurde, ein Arbeiter, der niemanden zufriedenstellt, ein Mann ohne Frau und Kind, kurz, dieser Hirte hat Madame de Sarlat gesehen. Aus welcher Entfernung? Weder aus zweihundert noch aus dreihundert Metern, was die Sicht jedes anderen bereits erschweren würde. Nein, er befand sich, wie die Rekonstruktion des Falles ergab, in einer Entfernung von anderthalb Kilometern. Seien wir doch einmal ehrlich, meine Damen und Herren, was genau sieht man aus einer Entfernung von eintausendfünfhundert Metern? Ich, nichts. Er, ein Verbrechen. Merkwürdig, nicht wahr? Umso mehr als er, der Zeuge dieses angeblichen Anschlags, dem Opfer nicht zur Hilfe eilt, nicht die Bergwacht ruft und nicht die Polizei. Und weshalb? Weil er, wie er behauptet, seine Herde nicht allein lassen kann. Wir haben es hier also mit einem Individuum zu tun, das zusieht, wie ein Mensch ermordet wird, aber an nichts anderes denkt als an das Leben seiner Tiere, die ihm wichtiger sind, obgleich sie doch nur am Grillspieß enden … Ich begreife diesen Mann nicht, meine Damen und Herren. Dies wäre nicht so gravierend, wenn er nicht mit dem Finger auf eine bewundernswerte Frau zeigte, eine unbescholtene Gattin, eine perfekte Mutter, und sie des Letzten, was sie gewollt hätte, beschuldigte, des Mordes an ihrem Gabriel, auch Gab genannt, der Liebe ihres Lebens.«
Er wandte sich abrupt der Geschworenenbank zu.
»Nun, Sie, als Geschworene, mögen jetzt vielleicht einwenden, dass der Schein bisweilen trügt! Selbst wenn jeder diese so starke und sichtbare Liebe bezeugen kann, wissen wir nicht, was in dem Paar vorging. Diese Frau, Gabrielle de Sarlat, war vielleicht krank vor Argwohn, Eifersucht und Zweifel. Wer kann schon beweisen, dass ihr Verhalten gegenüber ihrem Gatten nicht paranoide Züge trug? Zu all den Zeugenaussagen, die Sie hier gehört haben und die nicht im Geringsten Anlass zu einer solchen Vermutung geben, möchte ich, meine Damen und Herren, meine eigene hinzufügen. Wissen Sie, was diese Frau gestern Abend tat? Sie bat mich um einen Gefallen, den einzigen Gefallen in zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft! Sie bat mich flehentlich, ihr vier Konfektschachteln zu bringen, Konfektschachteln, in denen sie seit dreißig Jahren die gemeinsamen Briefe und die gemeinsamen Erinnerungen an ihre Liebe verwahrte. Alles ist dort zu finden, angefangen bei den Theater- und Konzertkarten, über die Verlobungs-, Hochzeits- und Geburtstagsmenüs bis hin zu den kleinen Zetteln, die sie einander schrieben und morgens auf den Küchentisch legten – vom Gewöhnlichen bis zum Erhabenen, alles! Über dreißig Jahre lang. Bis zum letzten Tag. Dem Tag, an dem sie in ihre tragischen Ferien aufbrachen. Die Aufseherinnen werden Ihnen bestätigen, dass Madame de Sarlat anschließend stundenlang weinte, im Gedanken an den Mann, den sie verloren hat. Und nun frage ich Sie, und dies ist meine letzte Frage: Verhält sich so ein Mörder?«
Gabrielle brach auf ihrem Stuhl zusammen, während ihre Kinder und die empfindsameren Seelen im Publikum nur mühsam ihre Tränen zurückhalten konnten.
Richter und Geschworene zogen sich zur Beratung zurück.
Im Flur, wo sie neben Maître Plissier auf einer Bank wartete, dachte Gabrielle an die Briefe, in denen sie am Vorabend geblättert hatte. Den Brief, dem sie entnahm, dass Gab sie von Jugend an »meine Alte« genannt hatte. Wie konnte sie das nur vergessen, wie nur glauben, er hätte sie damit grausam verspotten wollen? Den Brief, in dem er sie fünfundzwanzig Jahre zuvor als »meine stürmische, wilde, geheimnisvolle, unberechenbare Frau« bezeichnete. Für »stürmisch und unberechenbar« also hielt er die Frau, die ihn töten sollte, wie recht er doch hatte, der Ärmste. Er hatte sie tatsächlich geliebt, wie sie war! Sie, mit ihrem aufbrausenden Temperament, ihrem Ärger, ihren Wutausbrüchen, ihren Depressionen, ihren Grübeleien, er, der so ruhig und friedlich war, dass ihn diese Gewitterstürme nur amüsierten.
Sie
war also das Geheimnis ihres Mannes!
In Gedanken hatte sie ihre Liebe zerstört. Und ihn hatte
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