Die Träumerin von Ostende
vernachlässigen, verbrachte sie mehr Zeit in Karls Zimmer – oder aber die Zeit dort verging schneller. Sobald sie über die Schwelle von 221 trat, überschritt sie eine unsichtbare Grenze und fand sich in einer anderen Welt wieder.
Gegen Mittag, als Karl und Stéphanie gerade zwanglos plauderten, wechselte er unvermittelt das Thema:
»Was tragen Sie eigentlich, wenn Sie nicht im Krankenhaus sind?«
Kurz entschlossen entschied sie, die Tatsachen zu leugnen – die unförmigen Kleider, die im Umkleideraum oder in ihrem Wandschrank auf sie warteten –, und sagte:
»Röcke.«
»Ah, umso besser.«
»Ja, Röcke und Blusen. Wenn möglich aus Seide. Manchmal auch einen Rock mit Kostümjacke. Und im Sommer leichte Kleider …«
»Hübsch. Und im Winter?«
Stéphanie errötete, es war ungeheuerlich, was sie ihm da alles erzählte.
»Ich trage gern Leder. Aber kein Biker-Leder, elegantes Leder, glamourös, chic; verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, das gefällt mit sehr! Wie schade, dass ich Sie nicht sehen kann.«
»Wir arbeiten hier in Hose und Bluse. Nicht sehr sexy.«
»Selbst an Ihnen nicht?«
»Selbst an mir nicht.«
»Das bezweifle ich. Na ja, das holen Sie dann draußen nach.«
»Genau … das hole ich nach …«
Am Nachmittag, als Stéphanie das Krankenhaus verließ, beschloss sie, die Lügen vom Morgen wahrzumachen und sich in den Kaufhäusern am Boulevard Haussmann umzusehen.
Und so nahm sie die Metro, was sie selten tat, da sie meist zu Fuß ging. Seit einigen Jahren wohnte sie »hinter dem Krankenhaus«. Jemand, der sich in Paris nicht auskennt, wird dieses »hinter dem Krankenhaus« kaum verstehen, denn die Salpêtrière hat zwei wichtige Eingänge, jeweils an einem der beiden Boulevards, die am Komplex des Krankenhauses entlangführen: Wie also kann der eine vorn und der andere hinten sein? Um das zu verstehen, muss man sich die besondere Geometrie von Paris vergegenwärtigen, einer kreisförmig gebauten Stadt, die dennoch eine Vorder- und eine Rückseite aufweist. Alles, was dem Zentrum und der Nôtre-Dame zugewandt ist, ist »vorn«, was zur Périphérique, der Ringautobahn, schaut, »hinten«. Da Stéphanie in Chinatown, in einem der Wohntürme, unweit der Banlieue wohnte, wohnte sie somit »hinten«.
Sich unter die Erde zu begeben und in einen überfüllten Metrowagon zu quetschen, dort zwischen Schweiß und Lärm im eigenen Saft zu schmoren, unter Gedränge und Gestoße wieder auszusteigen, um es mit den Menschenmassen draußen aufzunehmen, kam für sie bereits einem Abenteuer gleich. Nachdem sie mehrmals in den falschen Häusern gestrandet war, da die einzelnen Filialen der Kaufhauskette auf dieses oder jenes Produkt spezialisiert waren, landete sie schließlich in der Abteilung »Frauenmode«. Sie war beeindruckt.
Sie überwandt ihre Scheu und ließ sich von den Verkäuferinnen beraten; nach einigen Fehlgriffen fand sie vier Kleidungsstücke, die in etwa dem entsprachen, was sie Karl beschrieben hatte, und die ihr, zu ihrem großen Erstaunen, nicht einmal schlecht standen …
Als Stéphanie am Mittwochmorgen in den Umkleideraum kam, trug sie ein Lederkostüm; ihre Kolleginnen geizten nicht mit Komplimenten. Errötend schlüpfte sie in die übliche Bluse, sie fühlte sich irgendwie anders als sonst und vergaß absichtlich die beiden obersten Knöpfe zu schließen.
Im Zimmer der Oberschwester erfuhr sie, dass Karl Bauer, der Patient von Zimmer 221, in die Chirurgie gebracht und an den Augen operiert werden sollte.
Sie traf einen freudestrahlenden Karl an.
»Stellen Sie sich vor, Stéphanie, ich werde endlich wieder sehen können!«
Stéphanie schluckte schwer. Sehen, schön und gut, aber nicht sie! Das wäre eine Katastrophe, das Ende dieses Traums, der Tod ihrer Beziehung …
»He, he Stéphanie, hören Sie mich? Sind Sie noch da?«
Sie zwang sich, fröhlich zu klingen.
»Ja, ich höre Sie. Es würde mich freuen, wenn Sie wieder sehen könnten. Unglaublich freuen. Wirklich. Für Sie.«
Und zu sich selbst sagte sie: »nicht für mich«.
Sie wollte aber um keinen Preis, dass er ihre Verbitterung spürte, und gab sich alle Mühe, Karls naive Begeisterung zu teilen.
Nachmittags, um vier Uhr, als sie Dienstschluss hatte, brachte man Karl zur Anästhesie in den Operationssaal.
Am Donnerstag, nach einer unruhigen Nacht, machte sie sich bedrückt auf den Weg ins Krankenhaus.
Es regnete.
Paris wachte am frühen Morgen lärmend aus seiner nächtlichen Erstarrung
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