Die Träumerin von Ostende
Zimmer und näherte sich wortlos seinem Bett.
Nach dreißig Sekunden lächelte er. Eine Minute später murmelte er ein klein wenig unsicher:
»Stéphanie?«
Sie hätte das Spiel gern noch etwas hinausgezögert, doch eine Injektionsnadel auf ihrem Metalltablett kam ins Rollen und verriet sie.
»Ja.«
Er seufzte erleichtert.
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Seit einer Minute. Ich wollte Sie nicht aufwecken.«
»Ich habe nicht geschlafen. Jetzt begreife ich auch, warum ich immerzu an Sie denken musste.«
Sie plauderten, während Stéphanie den Zustand ihres Patienten überprüfte. Sie wollte etwas Neues mit ihm ausprobieren. Da sie bemerkt hatte, dass er lächelte, sobald sie mit ausgebreiteten Armen hinter ihm stand, kam sie näher und beugte sich so weit über ihn, dass ihre Brüste auf der Höhe seines Gesichts waren. Gewonnen! Karls Gesicht strahlte vor Freude. Daraus schloss sie, dass er nicht log: Sie verströmte tatsächlich einen Duft, der Karl entzückte.
Zum Spaß versuchte sie es noch einmal, ging noch näher an ihn heran. Bis ihr Haar seine Wangen streifte. Was würden ihre Kollegen denken, wenn sie sie so über ihn gebeugt sähen? Sollten sie doch! Sie jedenfalls war überglücklich, dieses wunderschöne Gesicht vor Freude strahlen zu sehen.
Als sie ihm schließlich ihr Dekolleté vor die Nase hielt und erklärte, sie müsse sich jetzt um die anderen Patienten kümmern, murmelte er, wie einer Ohnmacht nahe:
»Wie wunderbar, von einer so hübschen Frau …«
»Sie übertreiben, ich bin keine Traumfrau, weit gefehlt!«
»Eine Traumfrau ist nicht die, von der eine Frau träumt, sondern es ist die Frau, die ein Mann sieht.«
Samstag und Sonntag hatte sie frei. Sie vermisste Karl und durchlebte die unterschiedlichsten Stimmungen. Zum einen spazierte sie weiter nackt durch ihre Wohnung, um sich mit dem vertraut zu machen, was sie bisher nicht gewusst hatte: Ihr Körper duftete. Zum anderen weinte sie bittere Tränen, da ein wagemutiger Ausflug in einen Laden mit chinesischen Seidenkleidern ihren Traum zunichtegemacht und sie jäh in die Wirklichkeit zurückversetzt hatte: Nichts passte ihr, sie war dick und hässlich.
Daher schloss sie sich, um sich nicht länger fremden Blicken auszusetzen, in ihrer Wohnung ein, aß Konserven und sprach nur mit ihrem Fernseher. Warum waren die anderen Männer nicht so feinsinnig wie Karl? Warum räumte diese Gesellschaft dem Gesichtssinn einen höheren Stellenwert ein als den anderen Sinnen? In einer anderen Welt, der Geruchswelt, war sie schön. In einer anderen Welt konnte sie bezaubern. In einem Zimmer, das sie kannte, war sie »eine so hübsche Frau«. Sie erwartete den Montagmorgen wie eine Befreiung.
»Ist dir eigentlich klar, was du da redest, meine arme Stéphanie? Eine Augenweide bist du nur für einen gelähmten Blinden! Vergiss es!«
Nach der Euphorie kam die Depression.
Und so schwankte sie zwei Tage lang zwischen Verzückung und Jammer, Begeisterung und Selbstmitleid. Daher sagte sie, als man sie am Sonntagabend aus dem Krankenhaus anrief und bat, am nächsten Morgen früher zu kommen, beflissen zu.
Im Morgengrauen kam das Pflegepersonal zum Schichtwechsel in der Cafeteria bei einem Cappuccino zusammen, für die einen war es der letzte für die anderen der erste, der Tagesdienst löste den Nachtdienst ab. Es gab einen Augenblick der Unbestimmtheit in den Gebäuden, blau und grau, wie ein schwebendes Schweigen, dann geschah die Veränderung: Während man einen bitteren Schluck zu sich nahm, ein paar Worte wechselte, war es plötzlich Tag geworden, mit dem Geräusch der Rollwagen, mit Türenschlagen und Schritten, dem Kommen und Gehen in jedem Stockwerk und brummenden Staubsaugern im Treppenhaus, im Erdgeschoss öffnete die Aufnahme ihre Schalter. In den Fluren herrschte ein anderer Rhythmus, es war Zeit, die Patienten zu wecken, die Temperatur zu messen, Tabletten auszuteilen, und Tassen und Unterteller klapperten.
Um halb acht kam Stéphanie fröhlich in Karls Zimmer gestürmt.
»Guten Morgen!«
»Was? Sie, Stéphanie, schon?«, fragte der Mann mit den verbundenen Augen erstaunt.
»Ja, ich bin’s. Eine meiner Kolleginnen ist krank. Ich weiß, die Leute sind immer überrascht, wenn eine Krankenschwester oder ein Arzt Probleme mit ihrer Gesundheit haben. Ich übernehme ihren Dienst.«
»Und ich übernehme meinen: Ich spiele den Kranken. Das mache ich doch nicht schlecht, oder?«
»Sie machen das sehr
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