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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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aushalten?
    Sie beschloss, etwas für ihn zu tun: Opferte mehrere Stunden ihrer Zeit einem Schönheitssalon, leistete sich einen Friseurbesuch und schaffte es, einen Maniküre-Termin zu bekommen, und als sie wieder zu Hause war, öffnete sie ihren Wandschrank und nahm ihre Kleider sorgfältig unter die Lupe.
    »Was würde ihm gefallen? Was nicht? Ich mache zwei Stapel.«
    Sie zwang sich, nicht zu schummeln, leerte ihre Regale und lieferte am Samstag mehrere Säcke beim Roten Kreuz ab.
    Am Sonntag beschloss sie, noch einmal nach Barbès zu fahren, um ihren leergeräumten Wandschrank neu zu bestücken und darüber nachzudenken, was Karl ihr zum Thema rundliche Frauen erzählt hatte. Wenn er sie mochte, dann sollte auch ihr es gelingen, ihm zu gefallen. Sie setzte sich in ein Straßencafé und betrachtete das Kommen und Gehen.
    Welch ein Unterschied zwischen Barbès und Chinatown! Die beiden Stadtviertel trennten Welten! Wie sich allein schon die Straßen unterschieden, die asiatischen und die afrikanischen, und nicht nur durch ihre Gerüche – statt der grünen und gelben von Chinatown, einer Mischung aus Kräutern und Wurzeln, herrschten hier in Barbès die scharlachroten, würzigen, scharfen vor, Lammbraten und gegrillte Merguez. Und das Leben in den Straßen – überfüllte Trottoirs in Barbès, leere Straßen in Chinatown – und nicht zu vergessen: die Frauen … Die Frauen unterschieden sich durch ihre Größe, ihre Haltung, ihre Kleidung und ihr Verständnis von Weiblichkeit. Die in Barbès betonten ihre Formen durch Lycra oder hüllten sich in prachtvolle, weite, farbenfrohe
Boubous
, in denen sie noch üppiger wirkten, während sich die Frauen in Chinatown hinter weichen Westen verschanzten, jede Andeutung einer Brust unter einer geraden, männlichen Reihe von Knöpfen verbargen und ihre Hüften und Schenkel in langweiligen Hosen.
    Die majestätischen afrikanischen Frauen in ihren weiten Roben oder hautengen Trikots zogen mit ihrem wiegenden Gang die begehrlichen Blicke der Männer auf sich. Nicht eine Sekunde zweifelten sie an ihren verführerischen Reizen. Nicht eine Sekunde sahen sie Augenzwinkern und Pfiffe als spöttisch an. Sie schlenderten ruhig, selbstsicher und stolz dahin, so überzeugt von ihrem unwiderstehlichen Charme, dass sie sich stets als Gewinner fühlten. Prachtvolle Geschöpfe in Stéphanies Augen, wie auch in denen der Männer ringsum.
    Wenn ihre Mutter jetzt, in diesem Augenblick neben ihr säße, würde Léa sicher seufzen, als müsse sie eine Parade von Sturmpanzern über sich ergehen lassen, einen Besuch in einer Einrichtung für Behinderte oder ein Walfischballett. Stéphanie begriff, dass der abwertende Blick, den sie für sich selbst hatte, auf ihre narzisstische Mutter zurückging, die sich für den Inbegriff von Schönheit hielt. Und so hatte es auch nichts geholfen, dass sie von Léa weg ins chinesische Viertel gezogen war, wo sie sich unter hinreißenden, aber ätherischen Wesen wiederfand, die ihre Komplexe nur noch verstärkten.
    Eine schmale, anämische Rothaarige ging vorbei, sie sah aus wie Léa. Stéphanie lachte: eine Libelle inmitten von Murmeltieren, nichts weiter! Hier, unter diesen Riesinnen mutete diese Schlankheit wie Dürre an, und der flache Bauch ließ die Knochen hervortreten.
    Stéphanie kam zu dem Schluss, dass Attraktivität zutiefst relativ war, und kehrte beglückt vor sich hin summend nach Hause zurück. In der Avenue de Choisy, zwischen dem
Tang Supermarkt
und der
Maison du Canard Laqué
empfand sie sich angesichts ihrer Größe und ihrer Ausstrahlung mit einem Mal als durchaus passabel.
    In ihrem Standspiegel entdeckte sie eine neue Frau. Ihr Abbild war sich, bis auf Kleidung, Frisur und Haltung, nahezu gleichgeblieben, aber ein inneres Leuchten, ein plötzliches Vertrauen hatten sie verändert und eine schöne, üppige, vollbusige junge Frau aus ihr gemacht. Sie dankte Karl und wartete ungeduldig auf den nächsten Tag.
     
    Als Stéphanie am Montag durch die Tür von Zimmer 221 trat, war sie verärgert über die Ärzte dort – sie musste an sich halten, um sie nicht, wie vor ein paar Tagen die Geliebte, zu vertreiben, damit sie mit Karl allein sein konnte –, doch dann schrillte die Alarmglocke bei ihr: Etwas stimmte nicht. Stéphanie schlich in das Zimmer, drückte sich hinter den Assistenzärzten an die Wand und hielt sich, wie es einer Schwester ansteht, bescheiden im Hintergrund.
    Professor Belfort, ein Mann mit behaarten Unterarmen und

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