Die Träumerin von Ostende
auf. Die Straßen gehörten den Riesen, die sich tagsüber verbargen, den Lastern und Müllwagen. Fahrzeuge, die sie im Vorbeifahren bespritzten.
Die Sonne schien nicht heller als der Mond. Unter den vibrierenden Brücken der Hochbahn ging sie im Trockenen. »Was soll’s!«, murmelte sie vor sich hin. »Er wird fassungslos sein, wenn er mich sieht, ganz gleich, ob ich trocken oder nass bin! Also muss ich mich auch nicht zurechtmachen.« Während sie auf das glänzende Straßenpflaster blickte, dachte sie, dass sie von jetzt an wieder in ihren unattraktiven Körper zurückkehren würde, ihren Körper, der niemandem gefiel. Ein kurzer Traum, ihre Schönheit! Ein Picknick im Grünen! Die Auszeit von ihrer Hässlichkeit hatte nicht lange gewährt …
Zugleich machte sie sich Vorhaltungen, dass sie traurig war. Wie egoistisch! Statt an ihn zu denken, an sein Glück, dachte sie nur an sich selbst. Eine armselige Liebende, eine übelwollende Frau und eine schlechte Krankenschwester, sie war ein Ausbund an Fehlern. Genau genommen ein einziger Fehler.
Erschöpft, kraftlos stieß sie die Krankenhaustür auf, mit hängenden Schultern und niedergedrückt von einer, wie ihr schien, hoffnungslosen Niedergeschlagenheit.
Noch nie war ihr der finstere Flur, der zu Zimmer 221 führte, so lang vorgekommen.
Draußen prasselte der Regen schräg gegen die Fensterscheiben.
Als sie über die Schwelle trat, fiel ihr sofort auf, dass Karls Augen noch immer verbunden waren. Als sie näher kam, fuhr er zusammen.
»Stéphanie?«
»Ja. Wie geht es Ihnen?«
»Ich glaube, die Operation ist misslungen.«
Das Blut schoss ihr in die Ohren. Sie war glücklich, er würde sie nicht sehen, niemals! Jetzt war sie bereit, ihm ihr ganzes Leben zu widmen, sofern er es wünschte. Ja, sie wollte für immer die Krankenschwester dieses Mannes werden, vorausgesetzt, er sagte ihr in seiner Blindheit hin und wieder, wie schön sie war.
In den folgenden Stunden mobilisierte sie ihre ganze Energie, um ihn aufzuheitern, die Energie einer Frau, die einen Fehlschlag erlitten und wieder Hoffnung gefasst hatte. Dank dieser uneingeschränkt positiven Haltung war sie ihm über eine Woche lang eine wertvolle Stütze.
Eines Tages – es war ein Mittwoch – seufzte er:
»Wissen Sie, worunter ich hier am meisten leide? Dass ich keine Frauenschuhe mehr höre.«
»Das erlauben die Vorschriften nicht.«
»Wie soll ich je wieder gesund werden bei solchen Vorschriften! Das Geräusch von Pantoffeln und Holzpantinen trägt nicht zu meiner Genesung bei. Ich möchte nicht nur wie ein menschliches Wesen behandelt werden, sondern auch wie ein Mann.«
Ihr wurde mulmig, denn sie ahnte, dass sie es nicht übers Herz bringen würde, ihm abzuschlagen, worum er sie gleich bitten würde.
»Bitte, Stéphanie, könnten Sie die Vorschriften nicht für ein paar Minuten vergessen und für mich, nur für mich, Ihre Frauenschuhe tragen anstelle Ihrer Arbeitsschuhe?«
»Aber … aber …«
»Wird man Sie deswegen feuern?«
»Nein …«
»Ich bitte Sie inständig: Machen Sie mir diese Freude.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
Stéphanie dachte in der Tat nach, jedoch vor allem darüber, welche Schuhe sie tragen könnte. Mit ihren üblichen Sportschuhen würde sie Karl kaum glücklich machen.
Während ihrer Arbeitspause erkundigte sie sich bei den besonders schicken Kolleginnen, die ihr einige Geschäfte nannten.
Da die Krankenschwestern mehrheitlich aus Martinique stammten, begab sich Stéphanie nach Dienstschluss in den Untergrund, nahm die Metro und fand sich im Norden von Paris wieder, in Barbès, dem afrikanischen Viertel der Hauptstadt, wo es in den Schaufenstern in Hülle und Fülle schmale, elegante Schuhe zu moderaten Preisen gab.
Sie war mehrmals nahe daran kehrtzumachen, da sich manche Geschäfte mit ihren aufreizenden, aggressiven Kleidern vulgären Zuschnitts eindeutig an Prostituierte wandten.
Sie ging, wie man ihr geraten hatte, in den »Grand Chic parisien«, ein Geschäft, das mit seiner Neonbeleuchtung, seinen aufgetürmten Schuhschachteln, seinen ramponierten, zerschlissenen Sitzbänken und dem zusammengestückelten Linoleumboden seinem Namen nicht mehr ganz gerecht wurde.
Obgleich zum Kauf entschlossen, war sie so wenig darauf erpicht, diese hochhackigen Dinger anzuprobieren, wie bei den Hirten in den Landes Schafe zu hüten. Mit Hilfe der Verkäuferin fand sie dann doch noch eine Absatzhöhe, die es ihr erlaubte, sich halbwegs sicher zu
Weitere Kostenlose Bücher