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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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peinlich sein, mir ist es auch nicht peinlich«, log sie.
    »Es ist Ihnen nicht peinlich? Danke! Jetzt begreife ich endlich, dass ich nur noch ein Krüppel bin!«
    Stéphanie bemerkte, dass der Verband um seine Augen feucht wurde. Tränen! Am liebsten hätte sie Karl an sich gedrückt und getröstet, aber das durfte sie nicht. Wenn man sie so überraschte, ein nackter Mann in den Armen einer Krankenschwester, und er in diesem Zustand! Davon abgesehen, dass sie alles nur noch schlimmer machte, wenn sie ihn mit ihrem Duft umgab …
    »Mein Gott, was habe ich getan, was habe ich bloß getan?«, rief sie.
    Etwas ging vor in Karl. Er begann heftig zu zucken. Stöhnte. Stéphanie wollte schon nach Hilfe rufen, als ihr klarwurde, was sich abspielte.
    »Sie … Sie lachen?«
    Er nickte und schüttelte sich nur so.
    Als sie sah, dass sein Geschlecht immer kleiner wurde, je mehr er sich erheiterte, war Stéphanie erleichtert und musste, von ihm angesteckt, selbst glucksend lachen.
    Sie bedeckte ihn mit einem Laken und setzte sich so lange neben ihn, bis er wieder zu Atem gekommen war.
    Als er sich schließlich beruhigt hatte, fragte Stéphanie:
    »Was war denn so lustig?«
    »Man hätte meinen können, es sei Wunder was passiert, als Sie riefen ›Mein Gott, was habe ich bloß getan?‹, dabei haben Sie mich nur erregt. Ist das nicht eine absurde Situation?«
    Sie lachten wie verrückt.
    »Spaß beiseite. Das tun wir Ihnen jetzt nicht mehr an. Das mit dem Waschen lassen wir. Verstehen Sie?«
    »Ich verstehe.«
    In Wirklichkeit aber war Stéphanie sich nicht sicher, ob sie selbst verstanden hatte; sie wusste nur, dass sie diese Fähigkeit besaß, diese neue, umwerfende Fähigkeit, bei einem Mann Verlangen zu wecken. Was sage ich? Bei diesem Mann, diesem Mann hier, diesem hinreißenden Mann, diesem Frauenschwarm mit diesen bildschönen Geliebten, die sich alle um ihn stritten! Sie, die Dicke, die von der Natur so stiefmütterlich Behandelte!
    Für den Rest des Tages mied sie Zimmer 221, den befremdlichen Blicken nach, schienen ihre Kollegen zu ahnen, was dort vorgefallen war. Sie selbst fühlte sich ungewollt anders, zeigte sich redseliger, war überschwänglicher als sonst, bekam beim geringsten Anlass rote Wangen.
    »Nun mal ehrlich, Stéphanie, bist du verliebt?«, fragte Marie-Thérèse in ihrem fröhlichen singenden Akzent, mit den gerollten Rs und den lustvoll in die Länge gezogenen Vokalen.
    Stéphanie, der siedend heiß wurde, antwortete nicht, lächelte und flüchtete in die Apotheke.
    »Sie hat sich verliebt«, schloss Marie-Thérèse und schüttelte den Kopf.
    Doch Marie-Thérèse täuschte sich: Stéphanie hatte sich nicht verliebt, sie war Frau geworden, das war alles.
    Als sie sich an diesem Abend auszog, mied sie nicht wie sonst den Spiegel, sondern baute sich vor ihm auf.
    »Du gefällst! Du kannst gefallen!«
    Sie teilte dies ihrem Körper mit wie eine gute Nachricht oder eine Auszeichnung.
    »Dieser Körper erregt einen Mann«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
    Ihr Spiegelbild sah nicht sehr überzeugt aus.
    »Doch!«, beharrte sie. »Erst heute Morgen …«
    Sie erzählte ihrem Abbild, was am Morgen vorgefallen war, schilderte ihm in allen Einzelheiten, was ihr Duft alles vermochte …
    Anschließend schlüpfte sie in ihren Bademantel, aß zu Abend und hüpfte in ihr Bett, um immer wieder daran zu denken.
     
    Am Dienstag, im Morgengrauen, verhandelte Stéphanie im Umkleideraum mit Madame Gomez, damit sie im Austausch gegen kleine Gefälligkeiten und nichts ahnend das Waschen des Patienten in Zimmer 221 alleine übernahm.
    Als Karl dann gewaschen war, ging sie zu ihm.
    »Danke, dass Sie nicht gekommen sind«, seufzte er.
    »Das höre ich zum ersten Mal!«
    »Seltsam, oder? Es gibt Leute, vor denen man sich nicht schämt, und andere, vor denen man sich schämt. Die einen sind einem gleichgültig, die anderen nicht. Wahrscheinlich, weil man ihnen gefallen möchte.«
    »Sie wollen mir gefallen?«, fragte Stéphanie und schluckte. Während sie auf seine Antwort wartete, spürte sie, wie ihr flau wurde.
    »Ja, das würde ich gern, hätte es zumindest gern gewollt.«
    »Gewonnen! Sie gefallen mir.«
    Sie kam näher und streifte flüchtig seine Lippen.
    »Träume ich, oder haben Sie mich gerade geküsst?«, rief er.
    »Sie träumen.«
    Den ganzen Tag über bewahrte sie die Erinnerung an diese Berührung auf ihrem Mund. Wie konnte etwas nur so schön sein?
    Obgleich sie sich bemühte, die andern Patienten nicht zu

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