Die Träumerin von Ostende
wieder zurück?
Was tun?
Sich gegen die Tür stemmen, den Schlüssel zweimal umdrehen? Das würde der Koloss bemerken, zurückkommen und die Fenstertüren eindrücken.
Lieber warten, bis er nicht mehr da war.
Und sich vergewissern.
Vorsichtig ging Maurice wieder nach oben in sein Zimmer, schloss die Tür und näherte sich dem Fenster.
Durch die schmalen Schlitze der geschlossenen Läden konnte er nicht viel erkennen. Der öde, undurchdringliche Streifen Buschwerk, den er sah, ließ keine genauen Schlüsse zu, und er wusste nicht, ob der Eindringling endgültig gegangen war.
Maurice harrte eine Stunde auf seinem Wachposten aus. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sich nichts mehr bewegte, dann wieder kam es ihm vor, als würde alles von vorn beginnen. Allein dieses weitläufige Haus produzierte so viele Geräusche – knarrende Dielen und Balken, gluckernde Rohre, Mäusegetrappel auf dem Speicher –, dass nicht leicht auszumachen war, was wirklich vor sich ging.
Nichtsdestoweniger musste er wieder nach unten. Er durfte Tür und Fensterläden über Nacht keinesfalls offen lassen! Schließlich konnte der Mann zurückkommen. Er war nur nicht nach oben gegangen, weil er wusste, dass sich dort Leute befanden. Aber was, wenn er es sich anders überlegte? Vielleicht wartete er nur, bis alle schliefen, um dann im ersten Stock seine Suche fortzusetzen. Was übrigens suchte er eigentlich?
»Es reicht, Maurice, sei nicht albern, verwechsle das hier nicht mit dem Buch, das du gerade liest: Im Unterschied zu
Das Zimmer der dunklen Geheimnisse
findet sich in diesem Haus hier bestimmt kein Manuskript mit der Liste aller Kinder, die Christus und Maria Magdalena angeblich zusammen hatten. Und doch muss es hier etwas geben, etwas Besonderes, das dieser fremde Riese will, etwas, nach dem er nicht zum ersten Mal sucht, dazu bewegt er sich hier viel zu selbstverständlich … Aber was nur?«
Der Fußboden im Flur vibrierte.
Kam der ungebetene Gast zurück?
Auf Knien robbte Maurice zur Tür und spähte durchs Schlüsselloch.
Uff, es war Sylvie.
Als er die Tür öffnete, fuhr seine Cousine zusammen.
»Maurice, du schläfst nicht? Hab ich dich vielleicht geweckt?«
Maurice entgegnete tonlos:
»Warum bist du auf? Hast du etwas gesehen?«
»Wie bitte?«
»Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Nein … ich … ich konnte nur nicht schlafen, also dachte ich, ich mach mir einen Kräutertee. Tut mir leid. Habe ich dich erschreckt?«
»Nein, nein …«
»Also, was dann? Hast du etwas gesehen? Stimmt etwas nicht?«
Sylvies Augen weiteten sich besorgt.
Maurice war unschlüssig, wusste nicht recht, was er antworten sollte. Nein, er durfte ihr keine Angst machen. Musste erst einmal Zeit gewinnen. Zeit gewinnen gegenüber dem Eindringling, der vielleicht zurückkam.
»Sag mal, Sylvie«, begann er, wobei er versuchte, so normal und ruhig wie möglich zu klingen, »wäre es nicht besser, abends die Läden zu schließen? Und die Haustür, ich bin sicher, du hast sie nicht abgeschlossen.«
»Ach was, hier muss man keine Angst haben, hier ist weit und breit kein Mensch. Überleg doch nur, wie schwierig es war, auch nur hierherzufinden.«
Sie konnte sich glücklich schätzen, dass sie so dumm war. Wenn er ihr jetzt erzählte, dass vor weniger als einer Stunde ein Fremder im Wohnzimmer herumgestöbert hatte … Besser sie blieb bei ihrer gutgläubigen Unwissenheit. Er selbst hatte weniger Angst, wenn er der Einzige war, der Angst haben musste.
Sie kam näher und starrte ihn an.
»Hast du irgendetwas gesehen?«
»Nein.«
»Irgendetwas Auffälliges?«
»Nein, ich bin nur der Meinung, wir sollten die Tür und die Fensterläden verschließen. Kommt das nicht in Frage für dich? Verstößt das gegen deine Prinzipien? Ist das nicht vereinbar mit deinem Glauben? Geht dir das etwa gegen den Strich? Kannst du nicht mehr schlafen, wenn wir uns nachts einschließen? Kein Auge mehr zutun, wenn wir auf so einfache Sicherheitsmaßnahmen wie Läden und Schlösser zurückgreifen?«
Sylvie merkte, dass ihr Cousin kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
»Nein, natürlich nicht. Ich helf dir dabei. Oder besser, ich erledige es für dich.«
Maurice seufzte. Dann musste er also nicht hinaus in die schwarze Nacht, wo der Koloss seine Runden drehte.
»Danke. Ich mache dir dafür in der Zwischenzeit deinen Tee.«
Sie gingen nach unten. Als Maurice sah, wie unbekümmert und gemächlich sie nach draußen
Weitere Kostenlose Bücher