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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Freundinnen, Grace, Gina und …«
    »Grace, Audrey und Sofia.«
    »Kennst du sie schon lang?«
    »Nein. Erst seit ein paar Monaten.«
    »Tatsächlich? Also, gestern habt ihr ganz vertraut gewirkt.«
    »Das ergibt sich eben manchmal so.«
    »Wo hast du sie kennengelernt?«
    »Also … das ist mir jetzt peinlich … das möchte ich dir lieber nicht …«
    »Du kannst es mir noch nicht sagen?«
    »Ja, genau.«
    »Ganz wie du meinst.«
    Ein Lesbennachtclub, wie im Roman, so viel war sicher! Von der Sorte
L’Ambigu
oder
Le Minou qui tousse
, in Schuppen wie diesen riss Josépha Katz ihre Frauen auf … Sylvie genierte sich nur, es zuzugeben. Das hatte er doch gut gemacht mit seiner Cousine, oder? Daher durfte er auch gleich wieder zurück zu dem Buch, das er ihr gestohlen hatte.
    Und so spielte er noch einmal das Programm vom Vorabend durch: schaltete den Fernseher ein, heuchelte Interesse für eine alberne Telenovela, gähnte kurz darauf herzhaft wie von Müdigkeit übermannt und setzte sich schließlich in die obere Etage ab.
    Kaum in seinem Zimmer, putzte er nur rasch die Zähne, stopfte den Türspalt zu und stürzte sich dann auf seine Lektüre.
    Vom ersten Satz an erwies sich Eva Simplon erneut als brillant und vermittelte Maurice den Eindruck, sie hätte sich den ganzen Tag über nach ihm verzehrt. Ehe er sich versah, war er wieder in Darkwell, jenem mysteriösen Haus von Tante Agatha, das so gefährlich einsam inmitten der Berge lag. Und als er an die Schauergesänge dachte, die Nacht für Nacht aus seinen Mauern drangen, zitterte er.
    Diesmal nahm ihn der Roman so gefangen, dass er Sylvie weder den Fernseher ausschalten noch zu Bett gehen hörte. Und als ihn ein unheimlicher Ruf von seiner Lektüre aufschreckte, war es bereits Mitternacht.
    Die Eule!
    Oder der Mann, der den Eulenruf nachahmte!
    Er biss die Zähne zusammen.
    Wartete ein paar Minuten.
    Und wieder der Ruf.
    Dieses Mal bestand kein Zweifel: Er kam von einem Menschen, nicht von einem Tier.
    Es durchfuhr ihn eiskalt: Die Tür!
    Sylvie hatte wahrscheinlich wie gestern weder Türen noch Fenster verschlossen. Er war heute Morgen vor ihr aufgestanden und hatte sämtliche Läden geöffnet, um ihr nicht Rede und Antwort stehen zu müssen.
    Er durfte jetzt vor allem nicht in Panik geraten. Musste Ruhe bewahren. Sich besser im Griff haben als gestern.
    Er schaltete das Licht aus, nahm das Federbett vor seiner Zimmertür weg und machte sich auf den Weg nach unten. Wenn nur die Holzstufen nicht zu laut knarrten!
    Tief durchatmen. Eins. Zwei. Eins. Zwei.
    Auf dem Treppenabsatz blieb er vor Entsetzen wie angewurzelt stehen.
    Zu spät!
    Ein Mann ging langsam durch das vom Mondlicht beschienene Wohnzimmer, sein über die Wände gleitender Schatten wirkte riesig, zeigte ein scharfes Kinn, einen plumpen Kiefer und seltsam spitze Ohren. Stumm und sorgfältig hob er jedes Kissen hoch, jede Decke, wischte wie ein Blinder über die Regale.
    Maurice stockte der Atem. Die Ruhe, mit der dieser Eindringling zu Werke ging, erschreckte ihn nicht weniger als seine Gegenwart. Das quecksilberfarbene Licht fiel in Streifen auf seinen Schädel, kahl und glatt wie der eines Bonzen. Der Koloss bewegte sich durch das Haus, als würde er es bereits kennen, stieß sich weder an Möbeln noch an Sofas, erkundete jeden Winkel, tastete dieselben Stellen zwei-, dreimal ab. Was suchte er?
    Die professionelle Gelassenheit des Einbrechers wirkte ansteckend. Und so harrte Maurice weiter tapfer im Dunkeln aus. Was hätte er sonst auch tun können? Das Licht anschalten, um ihn zu erschrecken? Eine Glühbirne würde ihn kaum vertreiben … Nach Sylvie rufen? Weder eine Frau noch … Sich auf ihn stürzen, ihn niederschlagen und fesseln? Gegen diesen athletischen Kerl hatte er kaum Chancen. Zudem hatte er vielleicht eine Waffe! Eine Pistole oder ein Messer …
    Maurice schluckte so laut, dass er plötzlich fürchtete, er könnte sich verraten.
    Der Eindringling reagierte nicht.
    Maurice hoffte, dass nur er seine eigenen Körpergeräusche so deutlich wahrnahm; wie jetzt das irrwitzige Gluckern in seinem Bauch …
    Der ungebetene Gast stieß einen Seufzer aus. Er fand nicht, was er suchte.
    Und wenn er nun nach oben ging? Nur das nicht, dachte Maurice, das überlebe ich nicht.
    Der Fremde zögerte, sah zur Zimmerdecke empor, ging dann, als gäbe er auf, zur Tür und verschwand.
    Seine Schritte hallten vor dem Haus wider.
    Nach einigen Sekunden verstummte ihr Knirschen.
    Wartete er? Kam er

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