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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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eignes Ausgegrenztsein erinnert fühlte, wegen seiner Hässlichkeit. Und so empfand er umgehend große Sympathie für Eva Simplon.
    Als er Sylvie den Fernseher ausschalten und mit schweren Schritten die Treppe hochkommen hörte, fiel ihm ein, dass er längst hätte schlafen sollen. Heuchlerisch löschte er rasch seine Nachttischlampe. Sie durfte auf keinen Fall wissen, dass er noch wach war! Und erst recht nicht, dass er ihr Buch geklaut hatte! Sie durfte es ihm nicht wegnehmen …
    Die Minuten, die er im Dunkeln ausharren musste, kamen ihm endlos vor, quälend. Das Haus knackte, knarrte und knisterte, tausend rätselhafte Geräusche. Hatte Sylvie daran gedacht, alle Türen und Fenster zu schließen? Sicher nicht! Er wusste, wie arglos sie war. War ihr nicht bewusst, dass sie in einem fremden Haus lebten, in der Mitte von Nirgendwo, in der Wildnis? Wer konnte garantieren, dass es in dieser Gegend hier nicht vor Herumtreibern, Verbrechern, skrupellosen Gestalten wimmelte, bereit, für eine Kreditkarte zu morden? Vielleicht trieb sogar irgendein Irrer sein Unwesen, drang in die Landhäuser ein und stach die Bewohner ab? Ein Serientäter? Der Schlachter aus der Ardèche? Wenn da nicht eine ganze Bande am Werk war … Sicher wussten das alle hier, nur sie nicht, die Neuankömmlinge, weil man sie nicht gewarnt hatte. Sie gaben die ideale Zielscheibe ab! Ihn schauderte.
    Was tun? Aufstehen und kontrollieren, ob alles verschlossen war? Dann hätte Sylvie gewusst, dass er noch nicht schlief. Oder aber übelgesinnten Subjekten den Weg ins Haus freimachen, damit sie sich in einem Wandschrank oder im Keller verstecken konnten? Just in diesem Augenblick zerriss ein unheimlicher Ruf die Nacht.
    Eine Eule?
    Ja. Zweifellos.
    Oder ein Mensch, der eine Eule nachahmte, seinen Komplizen ein Zeichen gab? Ein alter Trick, wenn nicht der älteste. Oder?
    Nein! Eine Eule, was denn sonst.
    Und wieder der gleiche Ruf.
    Maurice begann zu schwitzen, der Schweiß lief ihm über den Rücken. Was hatte dieser zweite Ruf zu bedeuten? War es tatsächlich nur eine Eule, oder antwortete da ein Komplize?
    Er setzte sich auf und schlüpfte rasch in seine Pantoffeln. Jetzt war keine Minute mehr zu verlieren. Was Sylvie auch immer denken mochte, eine Bande Psychopathen war für ihn beängstigender als seine Cousine.
    Als er in den Flur stürzte, vernahm er das Prasseln der Dusche und war beruhigt: Sie würde nicht hören, dass er nach unten ging.
    Dort stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass Sylvie alles hatte offen stehen lassen: Wohn- und Esszimmer waren in ein gespenstisch helles Licht getaucht. Kein einziger Fensterladen, keine einzige Fenstertür geschlossen, man musste nur eine Scheibe eindrücken und war im Haus. Und was die Eingangstür betraf, der Schlüssel steckte, sie hatte ihn nicht einmal umgedreht. Arme Irre! Leute wie sie forderten Blutbäder geradezu heraus!
    Hastig ging er nach draußen, wagte kaum Luft zu holen, so kostbar war jede Sekunde, und stieß von Fenster zu Fenster eilend die Holzläden zu, vermied dabei jeden Blick auf die graue Landschaft in seinem Rücken, aus Angst, eine Hand könnte sich jeden Augenblick in seinem Nacken festkrallen und ihn niederstrecken.
    Anschließend ging er wieder nach innen, drehte den Schlüssel um, ließ die Schlösser einschnappen, schob die Riegel vor und machte eine zweite ebenso schnelle Runde durch das Haus, um die Läden zu sichern.
    Nach erfolgreich beendetem Sprint setzte er sich, um Luft zu holen. Als sein Herz wieder langsamer schlug, da alles um ihn herum ruhig schien, begriff er, dass er soeben eine Panikattacke durchlebt hatte.
    »Was zum Teufel ist los mit dir, Maurice? So eine panische Angst hast du seit deiner Kindheit nicht mehr gehabt.«
    Er erinnerte sich, dass er ein ängstlicher kleiner Junge gewesen war, dachte aber, diese Schwäche sei längst überwunden, gehöre der Vergangenheit an, einem Maurice, den es nicht mehr gab. Konnte so etwas zurückkommen?
    »Das muss das Buch sein! Nicht zu fassen!«
    Vor sich hin murmelnd ging er zurück auf sein Zimmer.
    Er wollte schon das Licht ausschalten, als er plötzlich zögerte.
    »Noch ein paar Seiten?«
    Dann aber würde Sylvie, falls sie aufwachte, das Licht unter dem Türspalt durchschimmern sehen und sich wundern, dass er noch nicht schlief, zumal er erklärt hatte, er sei todmüde.
    Flugs suchte er im Wäscheschrank nach einem Federbett, dichtete damit den Türspalt ab, ging zurück ins Bett und las weiter.
    Diese Eva

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