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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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schlenderte, um die Läden zu schließen, pries er ihren Leichtsinn.
    Nachdem sie den Schlüssel zweimal im Türschloss umgedreht und sämtliche Läden gesichert hatte, kam sie zu ihm in die Küche.
    »Weißt du noch, wie ängstlich du als kleiner Junge warst?«
    Maurice reagierte verärgert: Dieser Satz war absolut deplatziert.
    »Ich war nicht ängstlich, ich war vorsichtig.«
    Seine Antwort hatte weniger mit der Vergangenheit als vielmehr mit der gegenwärtigen Situation zu tun. Was machte das schon! Verblüfft über die plötzliche Bestimmtheit ihres Cousins, ließ Sylvie es dabei bewenden.
    Während der Lindenblütentee zog, kam sie auf ihre Kindheit zu sprechen, die gemeinsamen Ferien, ihre Ausflüge mit dem Boot, während die Erwachsenen an den Ufern der Rhône Mittagsschlaf hielten, auf die Fische, die sie aus den Eimern der Angler stahlen, um sie wieder zurück in den Fluss zu werfen, und die Hütte, die sie Leuchtturm getauft hatten, auf einer Insel, die den Wasserlauf teilte …
    Während Sylvie wehmütig daran zurückdachte, hing Maurice anderen Erinnerungen nach, Erinnerungen an die Zeit, als seine Eltern begannen, wieder ins Kino zu gehen und zum Tanzen, da sie glaubten, ihr Sohn sei mit seinen zehn Jahren alt genug, um allein zu Hause zu bleiben. Es waren entsetzliche Stunden für ihn. Er kam sich verlassen vor, winzig in den vier Meter hohen Räumen. Wo waren Vater und Mutter, er schrie und heulte, vermisste sie, ihre Vertrautheit, ihren beruhigenden Geruch, ihre melodischen, tröstenden Worte; er weinte und weinte, sein Körper wusste, dass Tränen die Eltern wieder herbeizaubern konnten. Doch vergeblich. Was jahrelang geholfen hatte, wenn es ihm nicht gutging, ihm etwas weh tat oder er sich alleingelassen fühlte, funktionierte nicht mehr. Er hatte all seine Macht verloren. Er war nicht mehr Kind. Und noch nicht erwachsen. Und wenn die Eltern dann um ein Uhr in der Nacht zurückkamen, beschwippst, beschwingt und ausgelassen, bewegten sie sich anders, rochen anders, sprachen anders, und er hasste sie, schwor sich, niemals erwachsen zu werden, niemals wie sie, niemals sinnlich, lasziv und spöttisch, versessen auf Vergnügungen, auf Essen, Trinken und Fleischeslüste. Und als er zum Mann heranreifte, geschah dies auf andere Weise, er wurde zum Kopfmenschen. Legte Wert auf geistige Betätigung, Wissen, Bildung und Kultur. Leibes- und Gaumenfreuden interessierten ihn nicht. Erwachsen werden, ja, aber ein gebildeter und kein triebhafter Mensch.
    War das der Grund, weshalb er Romane immer abgelehnt hatte? Weil seine Mutter an den Abenden des Verrats Bücher, die ihr gefielen, auf seinen Nachttisch legte, um ihn zu beschäftigen? Oder weil er für bare Münze nahm, was er in seinem ersten Buch gelesen hatte, und sich gedemütigt fühlte, als seine Eltern ihm laut lachend erklärten, dass dies alles nur frei erfunden war?
    »Maurice … Maurice … hörst du mich? Du bist so seltsam.«
    »Aber alles ist seltsam, Sylvie. Alles. Seltsam und befremdlich. Nimm nur dich und mich, wir kennen uns seit unserer Geburt, und doch haben wir Geheimnisse voreinander.«
    »Du denkst an …«
    »Ich denke an das, was du mir nicht sagst und vielleicht irgendwann sagen wirst.«
    »Ich schwöre dir, du wirst es erfahren.«
    Sie stand auf, umarmte und küsste ihn und schämte sich sogleich dafür.
    »Gute Nacht, Maurice. Bis morgen.«
     
    Der nächste Tag verlief so seltsam, dass keiner von beiden den Mut fand, noch einmal darauf zurückzukommen.
    Maurice hatte nach all den Aufregungen zunächst versucht, wieder einzuschlafen, da ihm dies aber nicht gelang, hatte er das Licht wieder angemacht und sich erneut in
Das Zimmer der dunklen Geheimnisse
vertieft. Doch seine Nerven, durch den Besuch des ungebetenen Gastes bereits aufs äußerste strapaziert, wollten sich nicht beruhigen: Eva Simplon – wirklich, er schätzte diese Frau, man konnte auf sie zählen – wurde von skrupellosen Käufern bedroht. Sie trachteten ihr, da sie ihnen Darkwell nicht verkaufen wollte, nach dem Leben. Kaum war Eva einem der als Unfall getarnten Attentate um Haaresbreite entkommen, hatte sie es bereits mit einem weiteren, ebenso besorgniserregenden Problem zu tun: Es gelang ihr nicht, die Tür zu dem esoterischen Zimmer zu finden, aus dem die nächtlichen Gesänge drangen. Sie hatte die Wände abgehorcht, im Keller nachgesehen und den Speicher durchsucht, doch ohne Erfolg. Sie hatte im Bürgermeisteramt das Kataster studiert, die im Archiv

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