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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Simplon war alles andere als eine Enttäuschung. Sie dachte wie er, war kritisch wie er, auch wenn sie oft unter dem eigenen kritischen Anspruch litt. Ja, sie war wie er. Er schätzte diese Frau außerordentlich.
    Zweihundert Seiten weiter kämpften seine Augenlider so heftig gegen die Müdigkeit an, dass er aufgab und zu schlafen beschloss. Als er sein Kopfkissen aufschüttelte, um es sich bequem zu machen, rief er sich nochmals die vielen Fußnoten ins Gedächtnis, die sich auf Eva Simplons frühere Abenteuer bezogen. Wie wunderbar! So konnte er seine Heldin in anderen Büchern wiederfinden.
    Im Grunde hatte Sylvie nicht einmal so unrecht. Es war keine große Literatur, aber fesselnd. Genau genommen hatte auch er nicht viel übrig für die große Literatur. Es musste ihm morgen irgendwie gelingen, sich zurückzuziehen und weiterzulesen.
    Plötzlich richtete er sich kerzengerade in seinem Bett auf.
    »Sylvie … aber natürlich …«
    Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen?
    »Aber ja … Deshalb schwärmt sie auch so für die Romane von Chris Black. Als sie mir das gestand, sprach sie nicht von Chris Black, sondern von Eva Simplon. Ganz eindeutig: Sylvie ist Lesbierin!«
    Er sah das Leben seiner Cousine vor sich, als blätterte er rasend schnell ein Fotoalbum durch: eine extrem starke Bindung an den Vater, der lieber einen Sohn gehabt hätte, unglückliche Liebesgeschichten und gescheiterte Beziehungen mit Männern, die man nie zu Gesicht bekam, dafür aber an jedem ihrer Geburtstage seit fünfzig Jahren Freundinnen, immer nur Frauen, nichts als Frauen … Und dann die drei, auf die sie heute Nachmittag so begeistert zugeeilt war – war diese Begeisterung nicht irgendwie suspekt? –, ähnelten sie mit ihrem kurzen Jungenhaarschnitt, ihrer maskulinen Kleidung und ihrem burschikosen Habitus nicht der Vorgesetzten von Eva Simplon, dieser Josépha Katz, einer feisten Lesbe, die in den sapphischen Nachtclubs von Los Angeles herumspukt und Zigarre rauchend Chevrolet fährt? Natürlich …
    Maurice gluckste. Das einzig Verwirrende an dieser Entdeckung war für ihn, dass sie so spät kam.
    »Sie hätte es mir doch sagen können. Das wäre sie mir schuldig gewesen. Für so etwas habe ich doch Verständnis. Wir reden morgen darüber, wenn …«
    Dies waren seine letzten Worte, ehe er wegdämmerte.
     
    Leider gestaltete sich der nächste Tag anders, als von Maurice gedacht. Aus Dankbarkeit, dass sich ihr Cousin bereiterklärt hatte, den gemeinsamen Aufenthalt mit einem bescheidenen Fernsehabend zu beginnen, schlug ihm Sylvie einen kleinen Bildungsausflug vor; mit dem Reiseführer in der Hand hatte sie eine Route ausgearbeitet, auf der sie prähistorische Grotten und romanische Kirchen besichtigen konnten. Maurice wagte nicht, sich zu widersetzen, zumal er ihr unmöglich gestehen konnte, dass er nur eines wollte, zu Hause bleiben und Chris Black lesen.
    Zwischen zwei Kapellen, er spazierte gerade die Befestigungsmauer eines mittelalterlichen Städtchens entlang, beschloss er, das Problem dennoch anzugehen, und zwar anders, nämlich auf dem Weg der Wahrheit.
    »Sag, Sylvie, wärst du geschockt, wenn du erfahren würdest, dass ich schwul bin?«
    »Ach, mein Gott, Maurice, du bist schwul?«
    »Nein, bin ich nicht.«
    »Ja, warum fragst du mich dann so etwas?«
    »Um dir zu sagen, dass ich nicht schockiert wäre, wenn ich erfahren würde, dass du Lesbierin bist.«
    Sie wurde puterrot im Gesicht. Das verschlug ihr den Atem.
    »Was erzählst du da, Maurice?«
    »Ich wollte damit nur sagen, dass man, wenn man jemanden wirklich liebt, alles akzeptieren kann.«
    »Ja, einverstanden.«
    »Du kannst dich mir also ruhig anvertrauen, Sylvie.«
    Sie wechselte von Puterrot in dunkles Violett. Brauchte eine Minute, ehe sie weitersprechen konnte:
    »Du glaubst, ich verheimliche dir etwas, Maurice?«
    »Ja.«
    Sie gingen noch ein paar hundert Meter weiter, ehe sie stehen blieb, ihn ansah und mit erstickter Stimme sagte:
    »Du hast recht. Ich verheimliche dir etwas, aber ich kann es dir noch nicht sagen.«
    »Ich bin für dich da, wann immer du willst.«
    Maurice sagte dies so vertrauensvoll und gelassen, dass seine Cousine die Fassung verlor und ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
    »Das … das … hätte ich nicht von dir erwartet … das … das ist wunderbar …«
    Er lächelte großmütig.
    Beim Abendessen, nach einer vorzüglichen Entenbrust, machte er nochmals einen Vorstoß:
    »Sag mal, deine

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