Die Trantüten von Panem
noch einmal durch den Kopf gehen. Ich habe noch nie zuvor einen Jungen geküsst. Überhaupt ist mir Küssen noch nie in den Sinn gekommen. Aber wenn Edelkitsch, der widerliche alte Perversling, der eindeutig nicht das Beste für mich will, von mir verlangt, eine sexuelle Handlung live im Fernsehen vorzuführen, dann folge ich besser seinem Rat.
Ich gehe zu Pita, lege eine Hand auf seine Schulter und drücke sie sanft, ehe ich mit den Augenbrauen zucke, um meinem Interesse noch stärkeren Ausdruck zu verleihen. Pita fasst mir an die Wange und blickt mir tief in die Augen. Dann streichelt er zärtlich meine Haut. Ich verpasse ihm eine Ohrfeige, denn für solchen Schwachsinn haben wir keine Zeit. Da ich noch nie jemanden geküsst habe, bin ich mir nicht sicher, wie es jetzt weitergeht. Nur eines weiß ich: Bei einem guten Kuss ist viel Zunge im Spiel – und das überall. Sofort auf den Mund zu zielen scheint mir ein bisschen überhastet. Also fange ich mit der Wange an und ziehe meine Zunge langsam über sein Gesicht bis zur Stirn und wieder hinunter zur Nase. Ich knabbere ein wenig, denn er duftet so gut, ehe ich voller Selbstvertrauen seine Lippen abschlecke. Selbstvertrauen ist die halbe Miete.
»Sesam, öffne dich«, befehle ich. »Der Kapitän ist zur Landung bereit!« Mit diesen Worten reiße ich ihm den Mund mit beiden Händen auf und stecke so viel von meinem Kopf hinein wie möglich. Der köstliche Duft ist umwerfend. Es ist das reinste Paradies. Der Cellist reibt sich vor Wonne die Hände.
Nach weiteren sechzig Sekunden des Schauspiels ziehe ich mich aus Pitas Mund und trete zwei Schritte zurück. Zu meiner Freude fallen ein Dutzend weitere Fallschirme neben uns zu Boden. Sie enthalten Geschenke wie ein langweiliges Wasserwiederaufbereitungsgerät und einen tollen Welpen in einem Matrosenanzug.
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Den Sponsoren gefällt es, wenn ich etwas küsse. Also lege ich den Kopf in den Nacken und spreche sie direkt an. »Wie wäre es denn hiermit?« Ich lecke den Boden der Höhle ab. »Und das hier?« Schon verschwindet auch die letzte Ameise auf dem Stein in meinem Mund. »Und davon ganz zu schweigen!« Vorsichtig gehe ich auf einen Baum zu und gebe ihm einen zärtlichen Kuss an seiner intimsten Stelle, wo ein junger Ast aus dem Stamm sprießt. Aber die Sponsoren haben sich wohl verausgabt, denn ich bekomme keine weitere Belohnung für meine Bemühungen. Als ich mich Pita wieder zuwende, macht er einen gestärkten Eindruck.
»Ich fühle mich schon viel besser und bin beinahe wieder ganz der alte, superfitte Pita. Ich war nämlich mal Seidentuchtänzer!« Er lacht, und während er seine Hüften in Erinnerung an alte Zeiten schwingt, kann ich nicht umhin, an Carola zu denken, wie er, anstatt ein Seidentuch durch die Luft zu schwingen, mit seinen hervorragenden Jagdkenntnissen eigenhändig seine gesamte Familie ernährt. Er ist irgendwo da draußen, sein Waschbrettbauch glänzt im Schein der untergehenden Sonne, der Schweiß des Tages klebt nach diversen Anstrengungen an ihm. Und dann wäre da Pita, der gerade auf etwas Zuckerglasur ausrutscht und in die Höhle rollt. In mir brennt es vor Verlangen – aber nach wem?
Ich habe die schreckliche Vorahnung, dass mich diese Qual der Wahl den Rest meines Lebens begleiten wird und dass mir nichts – nicht einmal die politische Zukunft von Panem – je wichtiger sein wird.
Pita verkündet, dass er sich erneut wehgetan hat und – nachdem er sich eine halbe Stunde in meinem Schoß ausgeweint hat – endlich bereit sei, sich schlafen zu legen. Wir entschließen uns, meinen Schlafsack zu teilen – der Körperwärme wegen. Küssen geht gar nicht mehr, da es viel zu anstrengend ist, als dass man es mehr als einmal am Tag tun könnte. Wir machen es uns bequem, und schon bald erscheint das Wappen Panems am Himmel, gefolgt von einem Bild von Radi. Als der coole Jazz ertönt, spüre ich ein warmes Rinnsal auf meinem Bein.
»Pita, was ist das?«, frage ich ihn.
»Was denn?«, antwortet er.
»Hast du gerade ins Bett gemacht?«
Pita räuspert sich. »Äh … Nein, das ist nur Apfelsaft. Von einem Sponsor. Aber der ist schlecht, trink ihn besser nicht.«
Erleichtert schlummere ich ein.
Am nächsten Morgen beharrt Pita darauf, dass er noch immer Schmerzen verspürt, sodass ich den ganzen Tag damit verbringe, Essen für uns beide zu organisieren. Als ich einige Stunden später wieder im Lager auftauche – erschöpft und am Ende
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