Die Treibjagd
furchtbaren Erschütterung erfaßt, als er sie im Bette halb aufgerichtet sah. Ihre Augen standen weit offen und neues Leben schien ihre Wangen und Lippen zu färben. Mit ihrer unvermeidlichen Puppe im Arm, saß die kleine Klotilde am Rande des Bettes; sobald ihr Vater ihr den Rücken gewendet, war sie eiligst in dieses Gemach zurückgetrippelt, aus welchem man sie verwiesen hatte und in welches ihre kindliche frohe Neugierde sie zurückführte. Saccard, der den Kopf voll von den Geschichten seiner Schwester hatte, sah seinen Traum mit einem Male zerstört; ein furchtbarer Ausdruck mochte in seinen Augen liegen, als er nähertrat. Von Entsetzen erfaßt, wollte sich Angèle zurückwerfen, an die Mauer schmiegen; doch es kam der Tod. Diese scheinbare Kräftigung war das letzte Aufflackern der Lampe vor dem gänzlichen Erlöschen gewesen. Die Verscheidende vermochte sich nicht zu regen; immer kraftloser wurde sie, doch hielt sie die weitgeöffneten Augen auf ihren Gatten geheftet, als wollte sie seine Bewegungen überwachen. Saccard, der an eine teuflische Wiedergenesung geglaubt, die das Schicksal in Scene setzte, um ihn in den Fesseln des Elends festzuhalten, beruhigte sich wieder, als er sah, daß die Unglückliche keine Stunde mehr zum Leben habe. Er empfand nichts weiter als ein unerträgliches Unbehagen. Die Augen Angèlens besagten deutlich, daß sie das Gespräch zwischen ihrem Gatten und dessen Schwester gehört habe und daß sie fürchtete, er werde sie erwürgen, wenn sie nicht rasch genug stürbe. Und es lag in diesen Augen auch ein Ausdruck des furchtbaren Erstaunens einer sanften, friedfertigen Natur, die in den letzten Minuten die Entdeckung macht, wie schlecht die Welt sei und die bei dem Gedanken an die langen Jahre erschauert, die sie an der Seite eines Banditen verlebt. Allmälig aber wurde ihr Blick sanfter; sie hatte keine Furcht mehr und verzieh diesem Elenden offenbar, indem sie an den erbitterten Kampf dachte, den er seit so langer Zeit mit dem Schicksal führte. Verfolgt von diesem Blicke der Sterbenden, in welchem ein so beredter Vorwurf lag, mußte sich Saccard an die Möbel stützen, während er die dunkelsten Ecken suchte. Mit einer letzten Anstrengung wollte er aber den Alp von sich abschütteln, der ihn wahnsinnig zu machen drohte und er trat in den Lichtkreis der Lampe. Angèle machte ihm ein Zeichen, er möge nicht sprechen. Dabei blickte sie ihn noch immer mit jenem entsetzten Ausdruck an, welchem sich jetzt ein Versprechen der Vergebung beizugesellen schien. Nun bückte er sich, um Klotilde in die Arme zu nehmen und sie in das andere Zimmer hinüberzutragen. Aber auch dies verwehrte sie ihm mit einer Bewegung der Lippen. Sie verlangte, er möge da bleiben. Langsam wich das Leben von ihr, ohne daß sie den Blick von ihm gewendet hätte und in dem Maße, wie er bleicher wurde, schien ihr Blick sanfter zu werden. Mit dem letzten Seufzer hatte sie verziehen. Sie starb wie sie gelebt, still, ergeben, im Tode sich bescheiden zurückziehend, gleichwie sie im Leben sich stets bescheiden zurückgezogen hatte. Erschauernd stand Saccard vor diesen todten Augen, die offen geblieben waren und die ihn noch in ihrer Unbeweglichkeit zu verfolgen schienen. Leise wiegte die kleine Klotilde – am Rande der Bettdecke sitzend – ihre Puppe und flüsterte ihr zu, sie dürfe Mama nicht wecken.
Als Frau Sidonie zurückkehrte, war Alles zu Ende. Als eine in derlei Dingen bewanderte Person drückte sie mit den Fingerspitzen Angèlens Augen zu, was Saccard ganz ungemein erleichterte. Nachdem sie sodann die Kleine zu Bett gebracht, machte sie das Zimmer im Handumdrehen zu einem Todtengemach. Nachdem sie auf der Kommode zwei Kerzen angezündet und der Todten das Bett-Tuch bis ans Kinn hinaufgezogen, ließ sie einen befriedigten Blick um sich gleiten und streckte sich darauf bequem in einem Fauteuil aus, wo sie bis zum Tagesanbruch schlummerte. Saccard verbrachte die Nacht in dem anstoßenden Gemach, wo er die Traueranzeigen schrieb. Mitunter setzte er in seiner Arbeit aus, um auf einzelnen Papierstreifen lange Zahlenreihen aufzustellen.
Am Abende des Begräbnißtages entführte Sidonie ihren Bruder nach der Rue Papillon, wo sie ihr Halbgeschoß bewohnte. Hier wurden große Entschlüsse gefaßt. Der Magistratsbeamte beschloß, die kleine Klotilde zu einem seiner Brüder, Pascal Rougon zu bringen, der in Plassans als Arzt thätig war und aus Liebe zu seiner Wissenschaft als Junggeselle lebte, sich aber schon
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