Die Treibjagd
Elisabeth ganz erstaunt, das Mädchen sehr ernst, ja tief traurig zu sehen. Und eines Abends überraschte sie Renée, wie diese sich in krampfhaftem Schluchzen auf ihrem Bette wand und die Thränen eines wahnsinnigen Schmerzes zwischen den Kissen zu ersticken suchte. Eine Beute tiefster Verzweiflung beichtete ihr die junge Dame eine erschütternde Geschichte: ein reicher, verheiratheter Mann von vierzig Jahren, dessen reizende junge Frau gleichfalls zu Besuch anwesend war, hatte ihr auf dem Lande Gewalt angethan, ohne daß sie Widerstand zu leisten vermocht oder gewagt hätte. Das Geständniß schmetterte Tante Elisabeth zu Boden; sie klagte sich an, als wäre sie eine Mitschuldige gewesen; ihre Vorliebe für Christine erschien ihr als ein Verbrechen und sie sagte sich, daß wenn sie auch Renée bei sich behalten hätte, das arme Kind nicht unterlegen wäre. Um diese brennende Gewissenspein, deren Stachel ihre empfindliche Natur noch verschärfte, zu bannen, leistete sie der Schuldigen fortan Beistand; sie beschwichtigte den Zorn des Vaters, dem sie gerade durch das Uebermaß ihrer Vorsicht den traurigen Sachverhalt verriethen und ersann in ihrem Bestreben, ihre vermeintliche Schuld wettzumachen, dieses absonderliche Heirathsprojekt, welches ihrer Ansicht nach Alles in Ordnung bringen, den Vater versöhnen und Renée in die Reihe der rechtschaffenen Frauen stellen würde, ohne daß sie die beschämende Seite, noch die verhängnißvollen Folgen desselben wahrzunehmen schien.
Auf welche Weise Frau Sidonie von diesem vortheilhaften Geschäfte Kenntniß erhielt, konnte niemals festgestellt werden. Die Ehre der Familie Béraud gelangte ebenso in ihren Korb, wie die Wechselproteste aller Dirnen von Paris. Als sie den ganzen Sachverhalt kannte, dachte sie sofort an ihren Bruder, dessen Frau in den letzten Zügen lag. Tante Elisabeth war der festen Ueberzeugung, sie sei dieser sanften, untertänigen Dame zu Dank verpflichtet, die sich mit solchem Eifer für die unglückliche Renée verwendete, daß sie ihr in der eigenen Familie einen Gatten auserkor. Die erste Begegnung zwischen der Tante und Saccard fand in dem Halbgeschoß der Rue du Faubourg-Poissonnière statt. Der Magistratsbeamte, der durch das Thor der Rue Papillon angelangt war, sah Frau Aubertot durch den Laden, über die kleine Treppe anlangen und nun ward ihm der sinnreiche Mechanismus der beiden Eingänge klar. Er legte viel Takt und Zuvorkommenheit an den Tag. Er behandelte die Sache ganz geschäftsmäßig, doch als weltgewandter Mann, der seine Spielschulden ordnete. Tante Elisabeth war bedeutend aufgeregter als er: sie stotterte und wagte gar nicht von den hunderttausend Francs zu sprechen, die sie zugesichert. Er war denn der Erste, der die Geldfrage berührte, mit der Miene eines Advokaten, der die Sache seines Klienten verficht. Seiner Ansicht nach waren hunderttausend Francs eine lächerliche Morgengabe für den Gatten des Fräuleins Renée. Das Wort »Fräulein« betonte er ganz besonders. Außerdem würde Herr Béraud du Châtel einen armen Schwiegersohn geringschätzen und ihn beschuldigen, seine Tochter ihres Vermögens halber verführt zu haben; vielleicht käme er sogar auf den Gedanken, insgeheim eine Untersuchung einzuleiten. Betroffen von der ruhigen, höflichen Sprache Saccard's, verlor Frau Aubertot den Kopf und willigte ein, die Summe zu verdoppeln, als er erklärt hatte, daß wenn er sich nicht im Besitze von zweihunderttausend Francs befände, er es niemals wagen würde, um Renée anzuhalten, da er nicht für einen gemeinen Mitgiftjäger gehalten werden wolle. Die gute Dame entfernte sich ganz verstört, nicht wissend, was sie sich von einem Menschen denken solle, der soviel Würde bekundete und dessenungeachtet einen solchen Handel einging.
Dieser ersten Unterredung folgte ein offizieller Besuch, welchen Tante Elisabeth Aristide Saccard in seiner Wohnung, in der Rue Panenne abstattete. Diesmal kam sie im Namen des Herrn Béraud. Der ehemalige Gerichtsrath hatte sich geweigert, mit »diesem Menschen« zu sprechen, wie er den Verführer seiner Tochter nannte, solange er nicht der Gatte Renée's sei, der er im Uebrigen ebenfalls seine Thür verboten hatte. Frau Aubertot war mit unbeschränkter Vollmacht zur Führung der Verhandlungen ausgerüstet. Die glanzvolle Einrichtung des Beamten erweckte ihre ganz besondere Genugthuung; sie hatte gefürchtet, der Bruder dieser Frau Sidonie, die stets so nachlässig gekleidet ging, sei ein armer
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