Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Tochter, ihm in seinen letzten Tagen beizustehen.« Seine Augen glitzerten wie Edelsteine. So aufmerksam wie ihn hatte ich noch nichts und niemanden im Leben angesehen. »Kannst du dir das vorstellen? Nach allem, was er ihr angetan hat?«
»Warum erzählst du mir das?«
Er schaute auf mein Schnapsglas. Ich hatte die Finger darumgelegt, rückte es aber nicht von der Stelle. »Trink«, gebot er.
»Ich will nicht.«
»Trink, oder ich ramme dir das Glas in den Schädel.«
Es brannte wie Säure meinen Hals hinunter. Das stimulierte meinen Würgereflex und ich glaubte, mich übergeben zu müssen.
»Sieh dich an«, knurrte Dentman befriedigt.
Meine Augen schwammen in Tränen, als ich das Glas auf die Tischplatte knallte.
»Ich hasse dich und trotzdem muss ich dir danken.« Er starrte auf seine Hände. Handflächen nach oben, die Finger leicht gebogen, sahen sie aus wie ein Paar unbekannter Meereswesen, die man aus einem Netz befreit und aufs Deck eines Schiffes geworfen hatte. »Ich hasse dich, weil sie deinetwegen eine Weile von der Bildfläche verschwinden wird. Die Ärzte wollen sichergehen, dass sie stabil bleibt, damit sie okay ist. Du hast sie ziemlich aufgewühlt. Meine kleine Schwester hat ganz schön gelitten wegen dir.«
Unter lautem Lachen wurde die Tür der Kneipe aufgestoßen. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, ob Adam gekommen war. Die beiden Männer, die hereinkamen, kannte ich als Tooeys Stammkunden, aber mein Bruder war nicht unter ihnen. Als ich mich wieder David widmete, hatte er neu eingegossen. »Mann, ich kann nicht mehr …«
»Trink schon. Wir ziehen das durch, oder?«
»Was denn?«
»Trink.«
Mit zittriger Hand kippte ich den Drink. Dann sah ich Dentman doppelt und dreifach, bevor mein Blickfeld an den Rändern ausfranste. Abwesend bekam ich mit, wie er eine seiner geröteten Hände zu einer enormen Faust ballte. Ein Mann wie er war am gefährlichsten, wenn er nichts mehr zu verlieren hatte.
»David«, brachte ich nach zu langem ungemütlichem Schweigen über die Lippen.
»Du bist ein scheißverflucht guter Schriftsteller«, befand er in ruhigem, gleichmäßigem Ton. Mit zwei Fingern fuhr er in die Brusttasche seines Flanellhemdes und zupfte ein gefaltetes Papier heraus. Ich dachte, dass er es aus einer Zeitung gerissen hatte. Als er es jedoch offen auf den Tisch legte, erkannte ich es als Buchseite. »Meine Lieblingsstelle«, bemerkte er.
Er hatte den Text in der Mitte des Blattes unterstrichen – nur eine Zeile, nicht mehr.
Weil er mein Bruder ist, will ich tausend Tode sterben, um seinen zu vergelten.
Ich schob das Papier wortlos zurück.
Dentman nahm es, faltete es sauber zum Quadrat und steckte es zurück in die Brusttasche. »Ich dachte nächtelang darüber nach, was passiert war.« Er wirkte geistesabwesend, schien zwischen Wirklichkeit und Erinnerung zu schweben. »Wusste Veronica, was mit Elijah geschah, oder hatte ihr Geist alles verdrängt? War sie nach all den schrecklichen Dingen, die unser Vater ihr antat, letztlich eingeknickt? Ich bin nicht blöd. Es heißt, der Hang zum Missbrauch sei erblich und werde wie Alkoholismus weitergereicht. Ich ging jeden Abend in der Annahme zu Bett, meine Schwester habe ihrem Sohn etwas Furchtbares angetan.«
Er schwenkte zurück in die Gegenwart und sah mich direkt an. »Sie ist meine Schwester. Ich danke dir, dass du bewiesen hast, dass sie kein Monster ist – dass Vater sie nicht völlig ruiniert hat. Danke, dass du mir diesbezüglich Klarheit verschafft hast.«
»Du verschweigst mir etwas. Etwas, das du geflissentlich aussparst.«
Mir war, als umspiele der Hauch eines Lächelns seine Mundwinkel. »Du schreibst toll, bist aber kein großartiger Schriftsteller. Dazu müsstest du jeden noch so kleinen Stein umdrehen und darunter nachschauen, fast wie es ein Detektiv täte. Keine Möglichkeit dürftest du außer Acht lassen. Egal wie gern du deine Charaktere in eine bestimmte Richtung führen möchtest, du kannst sie am Ende doch nur so handeln lassen, wie es für sie natürlich ist.«
»Scheiße, das klingt richtig scharfsinnig.«
»Erinnerst du dich an den Friedhof? Du hast mich als Mörder bezeichnet. Und ich habe dir versichert, dass ich meinen Neffen nicht umgebracht habe.« Er nahm die Flasche wieder zur Hand und füllte die Gläser erneut. »Was ich damit sagen will, Glasgow, ist Folgendes: Wir liegen vielleicht beide richtig.«
Wir starrten uns lange, lange an. Zuerst begriff ich nicht, was er meinte … als es
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