Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
alt wie Jacob, aber keines der Kinder in der Gegend gab sich mit ihm ab oder sah ihn überhaupt, außer wenn er allein auf dem Hof spielte. Elijah hieß er und war geistig ein wenig zurückgeblieben, weshalb er Heimunterricht bekam. Ich denke nicht, dass er irgendwie gestört war, du weißt schon … autistisch vielleicht, aber ist auch egal. Jedenfalls zogen Veronica und David zu ihrem Vater und betreuten ihn, bis er starb.«
Adam zog kräftig an der Zigarre und nahm sie dann aus dem Mund, um die rot glühende Spitze zu betrachten. »Elijah ertrank letzten Sommer im See hinter eurem Haus. Deshalb sind Veronica und David so eilig fortgezogen und haben das Haus in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen. Sie mussten diese Hölle verlassen.«
Ich bekam feuchte Hände und brachte keine Antwort heraus.
»Die Treppe im See hast du vermutlich bemerkt. Diese, die aus dem See kommt.«
Ich nickte. »Wozu ist sie?«
»Ist ein alter Pier für Angler. Vor ein paar Jahren wurde er bei einem Sturm aus der Erde gerissen und trieb hinaus. Niemand weiß, wem sie gehörte, also machte man keine Anstalten, sie wegzuräumen. Im Sommer treffen sich die Kids aus der Nachbarschaft dort, benutzen sie als Sprungturm oder was auch immer. Letzten Sommer spielte Elijah dort.« Adam zuckte wieder mit den Achseln. Wir hätten genauso gut übers Wetter oder die miese Wirtschaftslage reden können. »Nachdem wir den Vorfall mehrmals durchgespielt hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass er mit dem Kopf aufgeschlagen und ertrunken war.« Seine Stimme klang nun unheimlich monoton, als bemühe er sich verbissen darum, einen gleichgültigen Eindruck zu hinterlassen. »Jemand hätte ihn beaufsichtigen sollen.«
»Um Himmels willen, warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Weil ich euch die Freude am Umzug nicht verderben wollte. Ich wäre untröstlich gewesen, hätte ich euch mit dieser makabren Sache belastet. Das Haus ist hübsch, die Nachbarn sind angenehm, und was mit dem kleinen Jungen geschah, braucht euch nicht zu interessieren. Ich weiß ja, wie du tickst.« Mit dem abschließenden Seufzer klang Adam wie ein Hundertjähriger.
Erneut dachte ich an unseren Vater. Ich dachte daran, wie er mich nach Kyles Bestattung mit seinem Gürtel verprügelt hatte und dann in sein Arbeitszimmer gegangen war. Ich hatte sein lang gezogenes, lautes Schluchzen durch die geschlossene Tür gehört.
»Was meinst du damit, du weißt, wie ich ticke?«
»Scheiße.« Adam nahm die Zigarre wieder aus dem Mund und schaute sie an, als sehe er zum ersten Mal eine. »Muss ich das Kind wirklich beim Namen nennen?«
Es war nicht notwendig. Ich wusste, dass er sich wegen Kyles Schicksal über Elijah Dentman ausgeschwiegen hatte. Dazu musste ich mein Gehirn nicht zermartern. Dennoch war ich verärgert über seine Überfürsorge. Ich war kein verdammtes Kind mehr. »Denkst du, ich hätte das Haus mit diesem Hintergrund nicht gekauft?«
Er schaute mich an. Sein Blick war stechend. Nüchtern. »Hättest du?«
Enttäuscht schüttelte ich den Kopf und starrte hinaus in die Finsternis. »Manchmal glaube ich, du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Brauchst du nicht.«
»Ich bin dein großer Bruder. Das ist mein Job.«
»Lass es bleiben.« Mehrere Herzschläge lang herrschte bedrückendes Schweigen zwischen uns. »Riecht nach Weihnachten«, durchbrach ich es schließlich, um gleichzeitig das Thema zu wechseln. »Die Luft. Irgendwie rauchig hier.«
»Liegt an den Kiefern.«
»Weißt du noch? Als Kids hatten wir immer einen echten Baum zu Heiligabend.«
»Na klar.«
»Jodie und ich, haben es uns in London angewöhnt, einen aus Plastik aufzustellen. Das hat sich selbst zur Tradition entwickelt. Oder die Tradition ein wenig verfälscht, schätze ich. Ein Fake-Baum …«
Adam kicherte. »Wir haben auch so einen.«
»Sie riechen einfach nicht so.«
»Nicht nach Weihnachten«, bestätigte er.
»Absolut überhaupt nicht«, pflichtete ich bei. »Erzähl Jodie nichts davon, okay? Über den ertrunkenen Jungen, meine ich.«
»Werde ich nicht.«
«Du hast Recht. Es braucht uns nicht zu interessieren.«
»Ich bin froh, dass du mir zustimmst.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter.
Die Schwärze der Nacht vor uns schien die ganze Welt auszumachen. Meinem wie wohl auch Adams Empfinden nach mochten wir die beiden einzigen Menschen im kalten, dunklen Antlitz des Planeten sein.
Teil zwei
das
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