Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
erkannte meine kindliche Handschrift auf den Seiten wieder. Die Tinte war an manchen Stellen verschmiert. Hier standen meine Ausführungen zu dem, was Kyle widerfahren war, aufgeschrieben aus einem unbewussten Drang zur Bewältigung, im Zuge einer entmutigten Phase – ein weiterer Begriff, den der Therapeut geprägt hatte – meiner Jugend.
Ich berührte das Notizbuch mit einer Hand, als könne ich es dadurch seiner Existenz berauben und wie Konfettiregen vor schillerndem Discolicht zurück in das Paralleluniversum befördern, aus dem es stammte. Die Seiten waren kalt, sehr kalt.
Während ich mit stockendem Atem umblätterte, war mir bewusst, auf was ich stoßen würde, bevor ich es sah, ein verblasstes Polaroid-Foto von Kyle, Adam und mir am Flussufer in Eastport. Wir hielten einander in den Armen, und Kyles kurzer Blondschopf hob sich von Adams beziehungsweise meinem struppigen dunklen Haar ab. Wir sahen alle drei den Fotografen an – unseren Vater, dessen Schatten abscheulich verheißungsvoll auf Kyle fiel. Ich hatte das Bild an jenem Nachmittag eingeklebt, als Adam von Dad zum College zurückgefahren worden war, während sich in unserem Haus unheilvoll drohende Stille ausbreitete, wie Eiswasser.
Ich schlug das Notizbuch zu, stand aber nicht sofort wieder auf. Dies lag daran, dass meine Beine vor Entsetzen steif geworden waren; ich konnte nunmehr genauso wenig auf sie bauen wie ein Querschnittsgelähmter. So rieb ich meine Augen mit einem Handballen, wobei die Feuchtigkeit meinen Blick vorübergehend trübte. Als ich wieder klar sehen konnte, schaute ich zufällig auf eine der angeschlagenen Gipswände gegenüber.
In der ersten Woche hatte ich auf Jodies Bitte hin ein paar Behälter Halbglanzfarbe gekauft, um Diele und Wohnzimmer dezent graugrün zu streichen. Fast zwei Tage waren dabei draufgegangen, und am Ende hatten wir einen halben Eimer übrig. Ich hatte den Deckel wieder festgeklopft und das Gefäß unter die Kellertreppe gestellt. Doch jetzt stand es nicht mehr da, sondern zwischen zwei Paaren Skiern und einem alten Couchtisch. Der Deckel lag mit der verschmierten Seite nach oben direkt daneben. An der Wand prangte genau in der Mitte des gleichmäßig weißen Gipses ein Handabdruck in der entsprechenden Farbe.
Später und für den Rest der Woche, in der ich den Augenblick im Geiste abermals durchspielte, wurde mir klar, dass ich nicht länger als zehn bis fünfzehn Sekunden dort gekniet und auf den Abdruck gestarrt hatte, obwohl ich es zu jenem Zeitpunkt wie eine volle Stunde empfunden hatte. Diese war mit der Behäbigkeit einer evolutionären Entwicklung verstrichen. Ich nahm die Fasern meiner Kleidung wahr und die Hitze, die plötzlich von mir abstrahlte, ganz zu schweigen von der Gänsehaut und den aufgestellten Nackenhaaren. Vor meinen Augen tänzelten geisterhafte Amöben, und es brannte, als seien Blutgefäße geplatzt. Jeden Muskelstrang meines klopfenden Herzens spürte ich, jede Sehne und jedes Band, das sich durch meinen Körper zog.
Ich erhob mich und näherte mich dem Abdruck mit weichen Knien. Als ich ihn mit zwei Fingern berührte, war er immer noch klebrig, also nicht völlig eingetrocknet.
Er stammte von einer Kinderhand.
»Wer ist hier unten?« Die Worte klangen zittrig und leidlich überzeugend. »Kyle?«, fügte ich an und ängstigte mich umso mehr.
Erneut vernahm ich ein schwaches Klicken von der anderen Seite des Raumes und erschrak so sehr, dass ich herumfuhr und praktisch genau mit dem Hintern auf dem offenen Farbkübel landete. Als er unter mir wegrutschte, fiel ich auf die Seite. Wie in Zeitlupe verfolgte ich mit, dass er umkippte und im Halbkreis herumrollte, wobei er einen graugrünen Bogen auf dem Beton hinterließ.
»Jesus!« Ich raffte mich vom Boden auf.
Das Klicken ging weiter und endete schließlich in einem bauchig tiefen Knall: Die Heizung ging an.
»Herrgott noch mal …« Ich zwang mich zu einem nervösen Lachen, bevor ich zum Waschbecken an der Wand ging und den Hahn aufdrehte. Die Rohre rasselten und pfiffen, bevor sich ein kupferfarbener Strahl kaltes Wasser ergoss. Ich hielt die Hände darunter, was mir umso eindrücklicher vor Augen führte, wie stark ich schwitzte. Schließlich nahm ich einige Papiertaschentücher und entfernte die verschüttete Farbe, so gut es ging. Zuletzt hatte ich den ganzen Stoß aufgebraucht, mit dem Ergebnis, dass der Boden aussah wie mit großen Magnolienblüten bemalt.
Mit dem letzten Tuch in der Hand erwog ich, den
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