Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
nie wirklich da war – nie richtig auf der Welt gewesen ist, denn die Natur kennt kein Aussterben, also bedeutet das Verschwinden, dass man von vornherein nie gelebt hat.
Ins Land der Lebenden kehrte ich an einem Mittwoch zurück. Im Haus herrschte Stille, denn Jodie war am College. Ein weiterer Sturm hatte die Stadt heimgesucht und im Schnee begraben und die Kiefern in der Ferne sahen aus wie weiße Spitzhüte von Hexen.
Im Haus war es eiskalt, obwohl das Thermostat konstante zwanzig Grad verhieß, aber ich traute ihm längst nicht mehr. Meine Krankheit hatte mir arg zugesetzt und mein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an, und der Geschmack auf meiner Zunge entsprach dem des Inhalts eines Aschenbechers, also begab ich mich in die Küche und setzte Kaffee auf.
Nach der zweiten Tasse ging es mir besser. Ich entschloss, den Steins einen Besuch abzustatten, um etwas über die Dentmans zu erfahren. Nach meinem Abstecher zu Veronica und David in West Cumberland am Sonntag war es für mich allzu offensichtlich, dass etwas mit dieser Familie ganz und gar nicht in Ordnung war. Die bizarre Charakterzeichnung der fiktiven Dentmans aus meinen Notizbüchern wurde der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht. Adam hatte mir alles, was er wusste, über sie erzählt, doch das genügte nicht. Als unmittelbare Nachbarn mussten die Steins viel vom Familienleben nebenan aufgeschnappt haben. Ich war begierig darauf, möglichst alles in Erfahrung zu bringen, sowohl für mein Buch als auch zur Befriedigung meiner wachsenden Neugierde.
Die Geschichte, die sich in meinen Aufzeichnungen herauskristallisierte, beschrieb einen gebeutelten Jungen, der von seiner geistesgestörten Mutter sowie einem Onkel, der sich am Quälen seines Neffen erfreute, in einem Kellerverschlag gefangen gehalten wurde. Irgendwann ist der Junge alt genug, um seine Meinung auszusprechen, weshalb sich sein Onkel – mein David-Dentman-Charakter, um Kontinuität zu wahren, hatte ich ihn ebenfalls so genannt – zum Handeln gezwungen sah. So brachte er den Jungen um und ließ es wie einen Unfall aussehen. Bis dorthin hatte ich es ausgearbeitet, drei Notizblöcke voll mit meinem manischen Gekritzel, doch inwieweit ich damit ins Schwarze traf, wusste ich nicht sicher …
Das Telefon klingelte. Die Stimme am anderen Ende klang so alt und kratzig, wie ein verwitterter Kartoffelsack aussah. »Bin ich richtig bei Travis Glasgow?«
»Ja. Wer spricht denn?«
»Nun Mr. Glasgow, mein Name lautet Earl Parsons, und ich schätze, Sie können mich als Westlakes Antwort auf die Watergate Reporter Woodward und Bernstein bezeichnen. Ich erhielt einen Anruf von Sheila Brookner – einen Hinweis, wenn Sie so wollen – und erfuhr, dass eine echte Berühmtheit unter uns weilt.«
»Sheila Brookner?«, wiederholte ich unverständig. Dann fiel es mir ein: »Oh.« Sie war die Bibliothekarin, die mir das Zeitungsarchiv gezeigt hatte. Einen verrückten Moment lang dachte ich, der Kerl wolle mich des herausgerissenen Artikels wegen belangen.
»Sie meinte, Sie hätten die Bibliothek aufgesucht, um für ein neues Buch oder so etwas in der Art zu recherchieren.«
»Hmmm, so etwas in der Art.« Ich ließ mir seinen Vergleich mit Woodward und Bernstein durch den Kopf gehen, ehe ich schlussfolgerte: »Sie sind Journalist.«
Earl Parsons lachte wie ein alter Traktor, den man bei Kälte auf Hochtouren zu bringen versucht. »Ach, Sie machen mich richtig verlegen, wenn Sie das behaupten. Ich bin eigentlich ein pensionierter Arbeiter einer Mühle und freier Mitarbeiter für The Muledeer , wo ich eine Menge zu tun habe und immer wieder feststelle, wie klein unsere Stadt doch ist. Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich muss zugeben, dass meine Kollegen größtenteils Studenten der Journalistik vom College sind.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Eine Bekanntheit wie Sie schlägt ihre Zelte nicht alle Tage in Westlake auf.« Er gackerte erneut. »Eigentlich überhaupt nicht.«
» Bekanntheit ist etwas übertrieben, finde ich. Ich habe nur ein paar Horrorromane verfasst.«
»Von denen ich einen gerade lese«, erwiderte Earl, vielleicht um mich zu beeindrucken, obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass er log. »Schauriges Zeug, das steht fest.«
»Ja, sie sind gruselig«, entgegnete ich.
»Ich habe vor, eine nette Story fürs Feuilleton über Sie zu schreiben, falls Sie es erlauben. Dass Sie hergezogen sind, ist vermutlich die aufregendste Nachricht seit Dolly Murphys Sieg beim
Weitere Kostenlose Bücher