Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
Treter, sechsundsiebzig Lehrlinge. Und in den kleinen neuen Fabriken arbeiteten zuweilen sieben Weber gleichzeitig an großflächiger Tisch- und Bettware für den Königs- oder Zarenhof. Luisa verabscheute die Fabriken. Die Häusler Weber waren, genau wie Luisa und ihr Vater, an den Fabrikanten Liebig & Co. gebunden. Was Liebig & Co. verlegte, wurde durch Export Treuentzien von den Häuslern abgenommen und versandt.
Caspar Weber war einer der achthundertneunundvierzig Damastwebergesellen des Ortes, einer der wenigen Mustermacher, die die Musterzeichnung in die Webstuhlschnüre einlasen, einer der dreiundneunzig Musterzieher. Es ging das Gerücht, dass er den Mustermalern Konkurrenz machte, aber das glaubte niemand so recht, weil ein Mustermaler an den großen Kunstakademien von Dresden, Leipzig, Prag oder Wien ausgebildet werden musste. Ein Mustermaleranwärter hatte unheimlich viel Geld zu bezahlen, um Mustermaler zu werden. Caspar Weber hatte kein Geld.
Ihr Gesicht war drei Handbreit von seinem entfernt. Sie hörte seinen ruhigen Atem, war von seiner Ruhe ausgefüllt, die sie mit nichts hätte vergleichen können. Solch innere Rast verspürte sie nicht, wenn sie vor der Staffelei saß, nicht, wenn sie las, nicht, wenn sie mit ihrem Hund durchs Dorf spazierte.
Als die Musterzeichnung in sich zusammenschnippte, wurde Luisa in die Gegenwart zurückgeholt. Caspar Weber klemmte sich die Papierrolle unter den Arm und wandte sich zum Gehen.
„Die Patrone der Servietten, Herr Weber, die muss ich zu Liebig & Co. bringen.“
Von ihm wurde sie jetzt so eindringlich angeschaut wie eben noch die Zeichnung, und dann tat er etwas, was Luisa aufregte, weil es nicht dem Anstand entsprach: Er tippte sich an seinen nicht vorhandenen Hut und zwinkerte dazu. „Kommen Sie sie abholen, wenn Sie uns das nächste Mal besuchen.“ Damit drehte er sich um und verließ das Kontor.
Es war so kalt, dass die Mandau zufror. Er holte sich den Tod, unaufhaltsam, mit jedem Pedal, das er unter dem Webstuhl trat. Seine Mutter und seine Schwestern strickten ihm dutzendweise Socken, aber darin hatte er kein Gefühl für die engen Tritte der Schäfte und blieb hängen, womit er Webfehler riskierte. Das konnte er sich nicht leisten, also fror er, da half alles Heizen nicht.
Seine Schwestern mussten noch einmal zum Torfstechen, weil der im Herbst gestochene Vorrat aufgebraucht war. Der Torfgroschen wurde vom Kartoffelgeld abgespart. Wie jedes Jahr war es beim bloßen Vorhaben geblieben, zum Kartoffelacker noch einen Streifen dazuzupachten, damit es über den ganzen Winter reichte. Und so reichte es nicht. Den Pachtgroschen sparte man sich für die Einstreu und die Erneuerung des Geheges der Schafe. Seit vor ein paar Jahren der Wolf um sich gebissen hatte, hatte sein Vater kein Glück mehr mit Schafen gehabt. Die Handvoll Schafe fror jetzt in ihren Wollhemden genauso erbärmlich wie die Menschen.
„Die fressen unsereinem das Stroh aus dem Kopf“, sagte sein Vater und brachte Caspars jüngste Schwester Sophie zum Lachen. Wie jedes Jahr schwor sich der Vater auch jetzt, die Schafe eins nach dem anderen zu schlachten, weil sie zu viel fraßen und das bisschen Wolle zu wenig einbrachte. Wolle zu verweben war ihnen sowieso verboten. „Du sollst nicht anziehen ein Kleid, das aus Wolle und Leinen zugleich gemacht ist.“ Fünftes Buch Mose. Den Stall wollte Vater abreißen und umpflügen und Kartoffeln drauf pflanzen. Aber das waren weit entfernte Pläne, die er jedes Jahr schmiedete. Die Schafe waren zum Schlachten zu dürr und zum Verhungern zu fett.
Caspar hätte sich gern ein, zwei Tage mal richtig ausgeruht, sich aufgewärmt, aber keiner in der Familie erlaubte sich einen schwachen Moment. Jeder packte an. Wenn es hieß, bei eisiger Winterkälte Holz auf dem Hutberg zu sammeln, dann marschierten die Mädchen los und sammelten Holz. Wenn es hieß, eine Woche lang Pellkartoffeln mit Butter zu essen, dann wurden ohne Murren und Meckern eine Woche lang Kartoffeln gepellt, bis einem die Keime aus dem Hintern sprossen. Wenn es hieß, das Leder der eigenen Schuhe zu kauen, weil sonst nichts zu fressen im Hause war, dann wurde eben Leder gekaut. Wenn es hieß, die eigene Großmutter zu verkaufen – ja gut, dann verkaufte man auch die eigene Großmutter. Alle spurten, alle taten, was getan werden musste.
Mittlerweile lasen sie das Muster des Ostritzer Tuchs in die Schnüre ein – Caspar, Balthasar und Vater. Das stundenlange Stehen auf dem
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