Die Tuchhaendlerin von Koeln Roman
Cristine, die vor der Zeit gealtert war und nicht mehr recht wußte, wer sie war und wo sie sich befand. Sie begann mitten in der Trauerpredigt, ein heiteres Tanzlied zu singen, und wurde daraufhin von ihrem Mann unauffällig fortgeführt. Auch Petrissas Schwester war da und vier von ihren Brüdern - der jüngste, Heinrich, hatte am Hochzeitstag von Helperich und Petrissa den Ehemann von Gertrudis, Marcmann, erstochen und war seitdem flüchtig, und falls sein Vater jemals etwas über ihn erfahren hatte, so war es sein Geheimnis geblieben. Auf Engilradis’ linker Seite stand ihr gerade verwitweter Schwiegersohn Erinfried Crop und hatte beide Arme um seine Söhne gelegt.
Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite des Grabes, stand meine Familie. Vater und Onkel Johannes waren Halbbrüder von Fordolf gewesen. Seine Mutter, Eckebrechts erste Ehefrau, war sehr jung unter merkwürdigen Umständen gestorben - sie war im Rhein ertrunken. Ihr Grab, längst eingesunken, aber stets sorgfältig gepflegt, lag ganz nah, neben ihr Eckebrechts zweite Frau, meine Großmutter, deren Namen ich trage, und daneben träumte nun Großvater in ewigem Schlaf. So viele Gräber!
Hinter uns standen die entfernteren Verwandten. Mutters Neffe Hermann Scherfgin war sehr früh an der Seuche erkrankt gewesen, aber in leichterer Form. Jetzt war er schon wieder soweit bei Kräften, um an der Trauerfeier teilnehmen zu können. Gottschalks Familie war erschienen, seine Eltern, sein Bruder und die Onkel, alle bedeutende Tuchhändler. Ach ja, da war ja auch Gerard Unmaze der Jüngere, einer der reichsten Männer in Köln, Constantins Schwager aus
seiner ersten Ehe. Ich sah noch zahlreiche weitere Vertreter der wichtigsten Familien, der Birklin, Cleingedank, von der Aducht, Scherfgin, Flacco und viele andere.
Im Hintergrund drängten sich zahllose Leute, bescheiden gekleidet, viele auch ärmlich; Engilradis hatte vierzig Jahre lang den Armen geholfen, wo sie nur konnte, und nun waren sie gekommen, um Fordolf die letzte Ehre zu erweisen und damit ihrer Wohltäterin ihre Dankbarkeit zu zeigen. Ich glaube fest daran, wenn im Himmel unsere guten Taten gewogen werden, kann keiner sich mit Tante Engilradis messen.
Ich wartete, bis auch der letzte seine Handvoll Erde in Fordolfs Grab geworfen hatte. Es waren so viele gewesen, daß der Totengräber nichts mehr zu tun hatte, als die Erde mit dem Spaten festzuklopfen. Meinen kleinen Gerhard reichte ich an Gottschalk weiter. »Geh nur schon voraus, ich komme gleich nach«, sagte ich. Als ich allein war, ging ich zu Eckebrechts Grab.
»Lieber Großvater«, vertraute ich ihm an, »wenn es für uns Hinterbliebene auch schrecklich erscheint, daß dir deine Enkelin in der Blüte ihrer Jahre folgen mußte, dein Urenkel sogar, ehe sein Leben richtig angefangen hatte - du hast inzwischen erkannt, daß wir alle eines Tages zu dir kommen werden, und daß Zeit für die Toten wenig bedeutet.
Aber vielleicht freust du dich doch auch im Himmel, wenn ich dir jetzt verrate, daß ich die schmerzliche Lücke kleiner machen will und wieder ein Kindchen unter meinem Herzen trage.« Dann warf ich dem Grab eine Kußhand zu und folgte den Trauergästen.
Ich schlief sehr schlecht in der Nacht nach Fordolfs Begräbnis und stand darum schon auf, ehe der Morgen graute. Leise schlüpfte ich in Hemd und Rock, ließ aber die klappernden Holzschuhe weg, ging auf Strümpfen in die Küche und
machte mir dort einen Kräutertee. Das Feuer wollte nicht gleich brennen, und ich hantierte eine Weile herum, bis die Köchin erschien, die wir uns nun aus eigenen Mitteln leisten konnten, und ein betroffenes Gesicht machte. Sie hatte das Gefühl, ihre Pflicht versäumt zu haben, weil die Hausfrau selber Feuer machen mußte, und begann sich wortreich zu entschuldigen. Schließlich saßen wir gemeinsam in der Küche und tranken langsam den Tee, und sie hörte sich teilnehmend meine Klage um den Tod von gleich drei lieben Verwandten an. Ich dachte an meine arme Tante Engilradis und beschloß, sie jetzt gleich zu besuchen, ehe meine Söhne erwachten und mich in Beschlag nahmen. Leise schlüpfte ich noch einmal in unsere Kammer, küßte den schlafenden Gottschalk auf die Stirn, nahm meinen großen, warmen Umhang und die schönen weichen Lederstiefel und entschwand. Die ersten Spuren des Morgenlichts zeigten erbarmungslos, wie häßlich die schmutzigen Schneekrusten an den Straßenrändern waren, und ich setzte meine Schritte behutsam, um nicht auf dem Eis
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