Die Tuchhaendlerin von Koeln
Dort hatte er immer eine kleine Kiste mit Holzspänen stehen. Damit spielte Hildebrand
gern, während Großvater mir erzählte. Er konnte so spannend berichten, von seiner glücklichen Kindheit bei seinen jüdischen Eltern, die bei dem großen Judenmord so grausam ums Leben gekommen waren.
Du weißt nichts darüber? Nun, es ist ja auch vor mehr als hundert Jahren geschehen, aber Großvater hat mir so oft und so eindringlich davon berichtet, daß mir ist, als hätte ich es miterlebt. Der Papst hatte die Christen des Abendlandes aufgerufen, ins Heilige Land zu ziehen und die Heiden von den Stätten zu vertreiben, an denen unser Heiland gelebt, gewirkt und gelitten hat. Viele Ritter folgten diesem Ruf und bereiteten sich auf das lange, gefahrvolle Unternehmen vor, beschafften sich auch Geld, denn die Ausrüstung war teuer. Und bei wem liehen sie sich dieses Geld? Vor allem bei den Juden. Da lag der Gedanke nicht fern: Wozu erst ins Heilige Land ziehen, wenn mitten unter uns auch Ungläubige leben? Die sich noch dazu an unserem gottgefälligen Kreuzzug mästen? Die lassen wir nicht in unserem Rücken, wenn wir in die Ferne ziehen. Sie sollen sich taufen lassen, und wollen sie das nicht, dann schlagen wir sie tot. Und so kam es, daß in Städten mit großen jüdischen Gemeinden fanatische Männer über die Juden herfielen und unzählige Menschen töteten. Auch die Kölner Juden ereilte dieses Schicksal, und Eckebrechts Vater und seine schwangere Mutter fanden unter grausamen Umständen den Tod. Großvater war damals ein Kind von neun Jahren, und er trug noch seinen jüdischen Namen Constantin. Er entkam dem Massaker um Haaresbreite, weil der große Kaufherr Wolbero und seine Frau Blithildis ihn vor den Mördern beschützten. Die kinderlose Blithildis nahm das verwaiste Kind in ihr Haus auf und schenkte ihm ihr großes, liebevolles Herz. Sie gab den Knaben nicht mehr her, auch nicht an die überlebenden Vertreter der jüdischen Gemeinde, die das Kind halbherzig bei ihr einforderten.
Großvater konnte das so lebhaft schildern, daß ich alles vor mir sah: die jüdische Schule, sein Elternhaus, die Art, wie seine Mutter die Speisen bereitete - alles fremd für mich, und doch vertraut, denn es war ja mein Großvater Eckebrecht, der dies alles wahrhaftig erlebt hatte. Ich sah seine zweite Mutter Blithildis, die ihre Augen überall hatte und so tüchtig zupacken konnte, und auch mit dem Mundwerk rasch war. Großvaters Stimme wurde ganz weich, wenn er von ihr sprach, wie sie das trostlose, verwaiste Kind mit dem Mantel ihrer Liebe eingehüllt und beschützt hatte. Auch seinen Adoptivvater Wolbero konnte ich sehen, einen klugen Kaufmann und einflußreichen Ratsherrn, der Eckebrecht zu seinem Kind und einem Kaufmann gemacht und ihm sein großes Vermögen hinterlassen hatte.
Hildebrand saß in seiner Ecke; Großvaters Katze schlich sich auf lautlosen, samtigen Pfoten heran und schaute ihm neugierig auf die Finger, wie er die lockigen Holzspäne glattzog. Sie stupste probeweise eins der Knäuel an, und als Hildebrand sie nicht daran hinderte, zerlegte sie mit wirbelnden Pfötchen die Späne zu Sägemehl. Mein Bruder lachte fröhlich.
Ich konnte sonst nie genug von Großvaters Geschichten bekommen. Aber heute hatte ich etwas anderes auf der Seele.
»Großvater, hast du einen Abakus?« fragte ich scheinheilig. Natürlich hatte er einen, ohne dieses Rechengerät war ja ein Kaufmann wie ein Bäcker ohne Ofen oder ein Steinmetz ohne Meißel. Darum sah Großvater mich auch ziemlich erstaunt an. »Das weißt du doch, Sophia«, sagte er. »Dort auf der Truhe steht er, du siehst ihn ja immer, wenn du bei mir bist.«
Ich rutschte von meinem Schemel und ging zu der Truhe hinüber. »Darf ich?« fragte ich höflich.
»Nur zu«, sagte Großvater, neugierig, was ich jetzt
machen würde. Ich rechnete drei, vier Aufgaben und blickte dann beifallheischend hoch.
Großvater sah nachdenklich auf meine Finger. »Hat dir das deine Mutter beigebracht? Wenn du dies schon kannst, Sophia, obwohl du doch noch so jung bist, dann werde ich dir auch etwas zeigen, was nicht viele Leute können, jedenfalls nicht hierzulande. Ich werde dir beibringen, wie man im Morgenland zu rechnen versteht, mit anderen Zahlen als bei uns. Das ist ein großer Vorteil für einen Kaufmann. Aber denk daran: Es ist ein großes Geheimnis! Meine Söhne kennen es und meine Enkel, aber sonst niemand hier in Köln. Ich will dich nur einweihen, wenn du mir ganz fest versprichst,
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