Die Tudor-Verschwörung: Historischer Roman (German Edition)
erstarrte, als die Pistole erneut losfeuerte. Diesmal bewies Henry eine deutlich verbesserte Zielgenauigkeit. Die Kugel prallte direkt über meiner Schulter von der Mauer ab, und winzige Steinsplitter spritzten mir ins Gesicht. Erst als ich warmes Blut über meine Haut rinnen spürte, begriff ich, dass die Kugel mich gestreift hatte.
»Ihr habt ihn getroffen!«, jubelte Henry. Also hatte jemand anders geschossen. Ich setzte meinen gefährlichen Weg fort. Doch irgendwie musste mein Sprung aus dem Fenster den Verstand der Kerle getrübt haben. Überrascht stellte ich fest, dass der Mann, der die Waffe übernommen hatte, nicht auf die Idee gekommen war, dass man von der Galerie aus viel genauer zielen konnte.
Die Pistole wurde wieder zurückgezogen. Ich beschleunigte meine Schritte und näherte mich einem Kassettenfenster zwischen mir und der Galerie. Jetzt hieß es darauf hoffen, dass die Fenster nicht verriegelt und die Butzenscheiben weder aus Blei noch so dick waren, dass man sie nicht einschlagen konnte. Mich erfasste wegen der tobenden Schmerzen in Beinen und Schulter ein Schwächegefühl. Schon erfolgte der nächste Knall. Die Kugel sauste knapp über meinem Kopf durch die Luft.
Ich kämpfte mich weiter voran, immer dicht an der Wand entlang.
Plötzlich schwang das Kassettenfenster auf. Ich blieb jäh stehen, als ich eine Gestalt verstohlen auf die Mauerkrone steigen sah. Kurz hielt sie inne. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht und sprengte Putz von der Mauer. Die Gestalt wandte sich mir zu. Im Mondlicht sah ich zwei dunkle Augen glänzen.
Dann setzte die Gestalt sich in Bewegung. Auf mich zu.
All meine Sinne vibrierten in höchster Alarmbereitschaft.
Doch ich starrte wie gebannt dem Mann entgegen, der sich mir näherte, ohne im Geringsten auf die eigene Sicherheit zu achten.
Zwei Überlegungen jagten in diesen kritischen Sekunden durch mein Bewusstsein. Zum einen bewegte er sich, als wäre er schon sein Leben lang über Hausdächer gehuscht. Und zum anderen fragte ich mich: War er gekommen, um den Auftrag der Dudleys zu vollenden, oder wollte er mich retten?
Als ich die geschwungene Klinge in seiner behandschuhten Faust aufblitzen sah, erkannte ich, dass ich besser nicht wartete, bis ich die Antwort wusste. Hoffentlich war ich schon nahe genug beim Wassertor. Wenn nicht, würde ich meinen Irrtum vermutlich nicht lange bedauern.
Ich stieß mich mit aller Kraft ab, die mir noch in den Beinen geblieben war.
Und sprang weit hinaus in die Nacht.
20
Mit den Füßen voran tauchte ich in den Fluss ein. Im Fallen hatte ich darauf geachtet, den Körper gestreckt zu halten, denn ich wusste, dass ich mit jeder anderen Haltung beim Aufprall auf der Wasseroberfläche sterben würde. Gleichwohl war mir, als landete ich auf Felsgestein. Mit beängstigender Plötzlichkeit wurde mir alle Luft aus der Lunge gepresst. Ich versank rasend schnell. Wild mit den Armen um mich schlagend und keuchend kam ich wieder an die Oberfläche. Der brackige Geschmack von Salz, vermischt mit Abfällen und Schlamm, verstopfte mir Nasenlöcher, Kehle und Ohren. Hustend spuckte ich alles aus und versuchte, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen.
Um mich herum der Fluss, dessen heftige Strömung mit der einsetzenden Flut noch gefährlicher wurde. Sein tintenschwarzer Rücken war übersät mit Zweigen und Laub. Die aufgedunsene Leiche eines nicht identifizierbaren Wesens wippte in meiner Nähe mit den Wellen, versank kurz und tauchte wieder auf. Von der Strömung gefangen, waren die Leiche und ich zu Treibgut geworden, das einfach mitgerissen wurde.
Meine linke Schulter und der Arm waren taub. Als ich zurück zu dem rasch kleiner werdenden Palast blickte, stellte ich mir die ungläubige Miene des gescheiterten Mörders vor. Jetzt erst wurde mir klar, wie weit mein Sprung gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass ich das überlebt hatte.
Und einmal mehr drohte ich zu ertrinken. Mit größter Anstrengung schaffte ich es, quer zur Strömung zu schwimmen. Mein Ziel war eine Gruppe von Bäumen am Ufer – an welchem, das wusste ich nicht. Einer verwesenden Leiche, die auf mich zutrieb, wich ich aus. Mir war nur allzu klar, wie schlimm meine Lage war. Ich war von einer Kugel getroffen oder zumindest gestreift worden und verlor offenbar viel Blut. Das kalte Wasser beeinträchtigte mich zunehmend und machte es mir immer schwerer, gleichzeitig zu schwimmen und zu atmen. Und während ich im Herzen und im Kopf ein Tosen
Weitere Kostenlose Bücher