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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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Schlafzimmer vor sich ging. Ich sage dir, warum du es trotzdem gesehen hast: Weil du dir die Dinge zurechtrückst, wie sie dir passen. Du wolltest, daß die junge Ida glücklich stirbt. Weißt du noch, was dein junges Ich im Garten zu dir sagte, als du Gott um Kraft und Erlösung batest. › Nein! ‹ sagte er. Und warum riechst du immer wieder diesen Verwesungsgeruch? Und warum war Ida wie zu einer Beerdigung gekleidet, als du sie in ihrer Wohnung aufgesucht hast? Und warum hat sich die Geschichte so zugetragen, daß du nicht einmal einen Kratzer abbekommen hast, während alle anderen um dich herum wie die Fliegen gestorben sind? Du kämpfst gegen eine Macht an, die du nicht besiegen kannst. Ich frage dich also noch einmal: Bist du bereit, Alfred Seichtem?«
    Ali begann zu weinen. Eine richtige Tränenflut strömte über sein ganzes Gesicht und vermischte sich mit dem Blut, das jetzt auch aus seinem Mund austrat.
    »Ich kann nicht«, winselte er. »Ich bin noch nicht bereit dazu. Ich fürchte mich so!«
    Ein Brüllen wie von einem schrecklichen Drachen erschallte und ließ die ganze Straße erbeben. Blitzartig wurde es Tag und wieder Nacht und wieder Tag und Nacht, ein Gewitter mit imposanten Blitzverästelungen zog in Sekundenschnelle auf, verdampfte jedoch ebenso plötzlich, eine grelle Sonne erschien am Himmel und war flugs wieder verschwunden, es wurde Sommer und Winter, Schnee bedeckte die Straße und verschmolz sofort, Bäume und Pflanzen blühten auf und verwelkten im Zeitraffertempo, die Sicht wurde blutrot und dann wieder grün, dann wieder blau und dann wieder gelb, und während all das mit unglaublicher Geschwindigkeit geschah, bebte und zitterte Ali mit aufgerissenen Augen, als würden Elektroschocks durch seinen Körper gejagt. Durch das Brüllen des Drachens vernahm er die Stimme des amtlichen Waldschrats, die plötzlich so tief klang, als käme sie aus einem mit niedriger Geschwindigkeit laufenden Tonband:
    »LASS LOS, ALFRED SEICHTEM! LASS LOS, ALFRED SEICHTEM! LASS LOS, ALFRED SEICHTEM!«
    »Ich kann nicht!« schrie Ali, »ich kann einfach nicht!«
    Er weinte so stark, daß ihm Tränen und Rotz das Gesicht schon völlig verunstaltet hatten.
    Wie durch einen Tastendruck kehrte der Nebel mit einem Mal zurück, und das trübe Zwielicht von vorhin durchdrang wieder die Straße.
    »Die Hölle … «, sagte der amtliche Waldschrat und atmete schwer inmitten der Nebelschwaden. Er stand jetzt neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Die Hölle ist in uns. Wir tragen sie überall mit uns herum. In der Erinnerung. Aber auch das Paradies. Weil du nicht loslassen konntest, Ali, mußtest du in die Hölle. Denn Leben und Tod vermischen sich nicht. Sie sind so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Man muß sich entscheiden.«
    »Ich habe mir also diesen schrecklichen Sturz nicht eingebildet. Es ist wirklich geschehen.«
    Der amtliche Waldschrat lächelte diesmal ratlos.
    »Du flüchtest dich wieder in Lügen und Phantasien, von denen du glaubst, daß sie dir dein Leben verlängern könnten. Du willst wieder in deine hübsche kleine Hölle zurückflüchten. Nun gut, wie du willst. Dir ist nicht zu helfen. Dann fahr eben zur Hölle! Geh wieder in den Ort der Verdammnis zurück, wenn du glaubst, daß es dort besser ist als da, wo du erwartet wirst. Solange du nicht loslassen kannst, mußt du immer und immer wieder in diese Hölle zurückkehren. In deine eigene Hölle. Gott segne dich, Alfred Seichtem!«
    Er nahm die Hand von seiner Schulter und wurde ein Teil des Nebels.
    Ali zog den Kopf aus dem Zaunstab heraus und stand auf. Er befühlte den Hals und das weiche Fleisch unter dem Kinn und stellte fest, daß sich die Wunde wieder verschlossen hatte. Er bemerkte auch kein Blut an seinen Kleidern. Er hatte sich alles nur eingebildet. Zuviel getrunken in der Bar, wo ihn dieser unsympathische Barkeeper mit dem Walroßschnäuzer bedient hatte. Er sollte jetzt nach Hause gehen und seinen Rausch ausschlafen. Danach würde er vielleicht wieder etwas malen. Zum ersten Mal seit Jahren ...
    Plötzlich erregte etwas Helles seine Aufmerksamkeit. Er nahm es aus dem Winkel seines rechten Auges wahr. Ali wandte den Kopf zur Seite und bemerkte, daß von der linken Flanke des Hauses eine Gasse nach hinten abging. Eine sonderbar fluoreszierende Lichtflut brach aus der Kluft hervor und ergoß sich auf den Bürgersteig. Er ging automatisch darauf zu, als würde er von einem Magneten angezogen. Dabei flogen ihm Bilder durch

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