Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
offenkundig in einer ganz anderen Zeit lebten, und zwar in der Vergangenheit, »unserer« glücklichen Vergangenheit, etliche Jahre zurück. Man las ihnen die Unbeschwertheit von den Gesichtern ab. Sie lachten, herzten sich, waren ausgelassen und, ja, siegessicher ob ihrer Zukunft. Dämliche Naivlinge, die sie waren! Wir aber hier unten, hinter den Hecken, wussten es besser, wussten, was die Zukunft bringen würde, nämlich böse Überraschungen, Vertrauensverlust, Missgunst, Selbstzerstörung und das Ende aller Unbeschwertheit. Deswegen beneideten wir unsere naiven jungen Doppelgänger aus der Vergangenheit um ihr Glück, so innig, dass wir es ihnen missgönnten und sie sogar dafür verachteten. Liebend gern wären wir in diese scheinbar sorglose Zeit zurückgekehrt. Doch das ging nicht mehr, sie waren weit, weit entfernt, lebten nun einmal in der Vergangenheit und würden im Lauf der Zeit die gleichen Fehler begehen wie wir »Alten«.
Plötzlich drehte sich Uschi zu mir um, und ich erkannte sie kaum wieder, so sehr war ihr Gesicht von Hass und Verbitterung entstellt, und sagte: »Komm, wir gehen rein, bringen die beiden um und nehmen ihre Stelle ein. Und da wir das Vorwissen um die Zukunft haben, werden wir diesmal alles richtig machen …«
Genau hier wachte ich schweißgebadet auf. Allerdings nicht mit einem gellenden Schrei wie es in Horrorfilmen der Regelfall ist, sondern mit der brennenden Faszination um dieses grausige Bild: Ein Paar, das sein gemeinsames Glück ruiniert hat, erhält die Chance zu einem Neuanfang, indem es in die Vergangenheit reisen darf. Dort töten die beiden ihre früheren Ichs, nehmen deren Stelle ein, und mit dem Wissen um die erbärmliche Zukunft wollen sie nun alles richtig machen. Augenblicklich erkannte ich die Vorzüge eines solchen Plots. Die Uhr zurückdrehen, neu anfangen, doch diesmal alle Fehler vermeiden, sozusagen die eigene Biographie perfektionieren. Wer hätte nicht schon einmal davon geträumt? Der Verheißung, die von der Aussicht auf eine zweite Lebenschance ausgeht, kann wohl niemand widerstehen. Zudem konnte man dabei akribisch die äußerst menschliche Erfahrung des Selbsthasses durchleuchten, der wohl jeden bei der Erkenntnis erfasst, dass man sich seine missliche Situation selbst zuzuschreiben hat. Und wer wäre als Sündenbock besser geeignet und verdiente die höchst mögliche Strafe als das frühere Ich, das all den Schlamassel verbockt hat? Last not least, seit TRÄNEN SIND IMMER DAS ENDE, meinem Erstling, hatte ich kaum etwas Autobiographisches zu Papier gebracht, wenn man mal ausklammert, dass man sich beim Schreiben unbewusst immer wieder aus dem Erlebten bedient wie aus einem unversieglichen Reservoir. Ich würde sozusagen aus dem Nähkästchen plaudern. (Seltsamerweise ist später kein Mensch auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Stoff um meine ureigene Geschichte handeln könnte. Alle hielten ihn für einen exzentrischen Einfall, der nur der kruden Phantasie eines Pirinçci entsprungen sein kann.)
Noch im Bett rief ich Uschi an und erzählte ihr den Traum. Vorsichtig deutete ich auch an, dass die Idee sich für einen Romanstoff eignen könnte. Sofort pflichtete sie mir bei: »Das musst du unbedingt schreiben!«
Ich begann mit der Arbeit im Spätsommer 1999 und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, aus der Hauptfigur gleich einen Schriftsteller zu machen. Ein bisschen kunstvolle Verfremdung sollte schon sein, wenn ich mir nicht von vornherein das aus naiver Selbstüberschätzung geborene Motto »Mein Leben ist wie ein Roman« eines Amateurdichters zu Eigen machen wollte. Deshalb wurde der Held zum Maler und ganz gegen das Klischee des garstigen Künstlers zum Schönling umgemodelt. Doch sonst schöpfte ich großzügig aus dem wahren Leben. Das fing schon mit dem Setting an. Das Altbauviertel, die Straße und das Haus, wo sich die düstere Geschichte abspielt, entsprechen eins zu eins meiner damaligen Wohnsituation. Es handelt sich dabei um die Heinrich-von-Kleist-Str. Nr. 13 in der Bonner Südstadt, und bis auf wenige Kleinigkeiten sieht es dort genauso aus wie im Buch beschrieben. Dieses ziemlich weitverzweigte Quartier aus prächtigen Gründerzeitgebäuden vermag im Herbst und Winter in der Tat die Kulisse für einen Gothic-Thriller zu liefern, und ebenso verhält es sich mit den labyrinthischen, von alten, verwitterten Mauern durchsetzten Gärten hinter den Häusern. Was gelogen ist (und kein Leser hat es gemerkt), ist die Sache
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