Die Türen seines Gesichts
Ausdruck.
„Sind sie jetzt im Tempel?“ wollte ich wissen.
Der madonnenhafte Ausdruck änderte sich nicht.
Ich wiederholte meine Frage, und sie zuckte zusammen.
„Ja“, sagte sie aus weiter Ferne, „aber du kannst nicht hinein.“
„Das werden wir ja sehen.“
Ich ging um den Wagen herum und half ihr beim Aussteigen.
Ich führte sie an der Hand, und sie bewegte sich wie in Trance. Im Lichte des neu aufgegangenen Mondes sahen ihre Augen wie an jenem Tag aus, an dem ich sie zum erstenmal gesehen hatte, damals als sie getanzt hatte. Ich schnippte mit den Fingern. Nichts geschah.
Also stieß ich die Tür auf und führte sie hinein. Der Raum lag im Zwielicht.
Und sie schrie, schrie zum drittenmal an diesem Abend:
„Tu ihm nicht weh, Ontro! Es ist Gallinger!“
Ich hatte noch nie zuvor einen marsianischen Mann gesehen, nur Frauen. Also konnte ich nicht wissen, ob er eine Mißbildung war, obwohl ich das stark vermutete.
Ich blickte zu ihm auf.
Sein halbnackter Körper war mit Schwellungen und Ausschlag bedeckt. Drüsenschwierigkeiten vermutete ich.
Ich hatte geglaubt, der größte Mann auf dem Planet zu sein, aber er war etwa zwei Meter zehn groß und hatte Übergewicht. Jetzt wußte ich, woher mein Riesenbett stammte!
„Kehren Sie um“, sagte er. „Sie darf eintreten. Sie dürfen es nicht.“
„Ich muß meine Bücher und meine Sachen holen.“
Er hob den mächtigen linken Arm. Mein Blick folgte ihm. All meine Habseligkeiten lagen sorgfältig aufgestapelt in der Ecke.
„Ich muß hinein. Ich muß mit M’Cwyie und den Müttern sprechen.“
„Das dürfen Sie nicht.“
„Das Leben ihres Volkes hängt davon ab.“
„Kehren Sie um“, dröhnte er. „Kehren Sie um zu Ihrem Volk, Gallinger. Verlassen Sie uns! “
Mein Name klang von seinen Lippen ganz fremd, wie der Name eines anderen. Wie alt war er? Dreihundert? Vierhundert? War er sein ganzes Leben Tempelwächter gewesen? Warum? Vor wem mußte man den Tempel behüten? Die Art, wie er sich bewegte, gefiel mir nicht. Ich hatte schon früher Männer gesehen, die sich so bewegten.
„Kehren Sie um“, wiederholte er.
Wenn sie ihre Kriegskünste ebenso verfeinert und vervollkommnet hatten wie ihre Tänze, oder, schlimmer noch, wenn ihre Kampfkunst Teil des Tanzes war, dann stand mir einiges bevor.
„Geh hinein“, sagte ich zu Braxa. „Gib M’Cwyie die Rose. Sag ihr, daß ich sie geschickt habe. Sag ihr, ich käme gleich.“
„Ich werde tun, was du verlangst. Denk auf der Erde an mich, Gallinger. Leb wohl.“
Sie ging mit der Rose an Ontro vorbei in den nächsten Raum.
„Werden Sie jetzt gehen?“ fragte er. „Wenn Sie wollen, werde ich ihr sagen, daß wir gekämpft haben und Sie mich beinahe geschlagen hätten, aber dann habe ich Sie bewußtlos geschlagen und Sie zu Ihrem Schiff zurückgetragen.“
„Nein“, sagte ich, „ich gehe entweder um Sie herum oder über Sie hinweg, aber jedenfalls gehe ich hinein!“
Er duckte sich, breitete die Arme aus.
„Es ist eine Sünde, Hand an einen heiligen Mann zu legen“, polterte er, „aber ich werde Sie aufhalten, Gallinger.“
Meine Erinnerung war ein beschlagenes Fenster, das plötzlich der frischen Luft ausgesetzt wurde. Die Dinge gewannen an Schärfe.
Ich blickte sechs Jahre zurück.
Ich war ein Student der östlichen Sprachen an der Universität Tokio. Es war mein freier Abend. Ich stand in einem Kreis von zehn Meter Durchmesser im Kodokan, den Judogi mit einem braunen Gürtel um die Hüften geschlungen. Ich war ein Ik-Kyu, eine Stufe unter dem niedrigsten Grad des Experten. Ein braunes Symbol über meiner rechten Brust sagte auf japanisch Jiu-Jitsu, in Wirklichkeit bedeutete es Atemiwaza wegen der einen Schlagtechnik, die ich mir ausgearbeitet hatte. Sie war ganz besonders für meine Größe geeignet, und ich hatte mit ihr schon Wettkämpfe gewonnen.
Aber ich hatte sie nie gegen einen Menschen eingesetzt, und es lag fünf Jahre zurück, daß ich zuletzt geübt hatte. Ich war nicht in Form, das wußte ich, aber ich mühte mich darum, meinen Geist dazu zu zwingen, Tsuki no Kokoro zu sein und wie der Mond Ontro in seiner Gänze zu reflektieren.
Von irgendwoher aus der Vergangenheit sagte eine Stimme: „Hajime, fangt an.“
Wie automatisch verfiel ich in meine Neko-ashi-dache -Haltung, die der einer Katze glich, und seine Augen brannten fremdartig. Er beeilte sich, seine eigene Position zu korrigieren, aber ich schlug eher zu!
Mein einziger Trick!
Mein langes linkes Bein
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