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Die Türen seines Gesichts

Die Türen seines Gesichts

Titel: Die Türen seines Gesichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Zelazny
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schließlich flog er nach Hause in sein Nest.
    Wir schafften dreitausend Fuß und hätten weitergehen können, wollten aber nicht über einen gemütlichen, kleinen Felssims hinaus, unter dem es eine Höhle gab, die für die ganze Gruppe groß genug war. Und dann hörte alles auf. Alles, was man sehen konnte, meine ich.
    Dann überkam uns ein Gefühl wie die Ruhe vor dem Sturm, eine lautlose elektrische Spannung, und wir warteten, was geschehen würde … was auch immer geschehen würde.
    Das Schlimmste was geschehen konnte, geschah: nichts.
    Dieses gespannte Gefühl, diese Erwartung, hielt an, blieb unbefriedigt. Ich glaube, es wäre tatsächlich eine Erleichterung gewesen, wenn irgendein unsichtbares Orchester angefangen hätte, Wagner zu spielen, oder wenn der Himmel sich wie ein Vorhang geöffnet hätte und uns eine Kinoleinwand erschienen wäre und wir aus den Buchstaben in Spiegelschrift erkannt hätten, daß wir auf der anderen Seite waren, oder wenn wir gesehen hätten, wie ein hochfliegender Drache tieffliegende Wettersatelliten auffraß …
    So hatten wir nur die ganze Zeit hindurch das Gefühl, daß etwas bevorstand, und das machte mich schlaflos.
    In der Nacht kam es wieder. Das Mädchen von der Zinne.
    Sie stand an der Mündung der Höhle, und als ich auf sie zuging, ging sie zurück.
    Ich hielt dicht vor dem Ausgang an und blieb stehen, wo sie gestanden hatte.
    Sie sagte: „Hallo, Whitey.“
    „Nein, ich werde dir nicht wieder folgen“, sagte ich.
    „Darum habe ich dich auch nicht gebeten.“
    „Was tut denn ein Mädchen wie du an einem Ort wie diesem?“
    „Zusehen“, sagte sie.
    „Ich habe dir gesagt, daß ich nicht abstürzen würde.“
    „Aber dein Freund wäre das beinahe.“
    „,Beinahe’ reicht nicht.“
    „Du bist der Anführer, nicht wahr?“
    „Stimmt.“
    „Wenn du sterben würdest, dann würden die anderen umkehren?“
    „Nein“, sagte ich, „sie würden ohne mich weitergehen.“
    Dann nahm ich meine Kamera.
    „Was hast du gerade getan?“ fragte sie.
    „Ich habe dein Bild aufgenommen – falls du wirklich da bist.“
    „Warum?“
    „Damit ich mir dich ansehen kann, nachdem du verschwunden bist. Ich sehe gern hübsche Dinge.“
    „…“ Sie schien etwas zu sagen.
    „Was?“
    „Nichts.“
    „Warum nicht?“
    „… sterben.“
    „Bitte sprich deutlicher.“
    „Sie stirbt …“ sagte sie.
    „Warum? Wie?“
    „… Berg.“
    „Ich verstehe nicht.“
    „… auch.“
    „Was ist denn?“
    Ich trat einen Schritt vor und sie einen zurück.
    „Kommst du?“ fragte sie.
    „Nein.“
    „Kehr um“, sagte sie.
    „Was ist denn auf der anderen Seite dieser Schallplatte?“
    „Du wirst weiterklettern?“
    „Ja.“
    Und dann „… Gut!“ sagte sie plötzlich. „Ich …“ Und wieder stockte ihre Stimme.
    „Geh zurück“, sagte sie schließlich, ohne Ausdruck.
    „Tut mir leid.“
    Und dann war sie verschwunden.
     
    6.
     
    Unser Weg führte uns wieder langsam nach links. Wir krochen und kletterten und schnitten Löcher in den Fels. In der Ferne zischten Schlangen. Sie begleiteten uns jetzt die ganze Zeit. Gelegentlich tauchte der Vogel auf und versuchte, uns zu Fall zu bringen. Ein wütender Bulle stand auf einem Felsvorsprung und brüllte auf uns herunter. Phantom-Bogenschützen schossen Feuerpfeile auf uns ab, die immer verblaßten, kurz bevor sie trafen. Flammende Blizzards schlugen über uns zusammen und waren dann verschwunden. Wir hingen wieder in der Nordwand und hatten immer noch westlichen Kurs, als wir hundertsechzigtausend Fuß erreichten. Der Himmel war tief und blau, und die ganze Zeit standen Sterne darauf. Warum haßte der Berg uns, fragte ich mich. Was war an uns, das dieses Ding herausforderte? Ich sah zum dutzendsten Mal das Bild des Mädchens an und fragte mich, was sie wirklich war. Hatte man sie aus unserem Bewußtsein herausgepickt und in Mädchenform komponiert, um uns zu locken, uns wie eine Sirene, wie eine Harpyie, an den Ort unseres endgültigen Sturzes zu leiten? Der Weg nach unten war so weit … Ich ließ mein Leben an mir vorbeiziehen. Wie kommt ein Mann dazu, Berge zu ersteigen? Ziehen ihn die Höhen an, weil er vor dem flachen Land Angst hat? Fügt er sich so schlecht in die Gesellschaft der Menschen ein, daß er sie fliehen und versuchen muß, einen Platz über ihr zu finden? Der Weg nach oben ist lang und schwierig, aber wenn er Erfolg hat, müssen sie ihm eine Art Girlande winden. Und auch wenn er stürzt, ist dies eine Art Ruhm.

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