Die Türme der Mitternacht
nur wenig Tote gibt, dann habt Ihr die wahre Macht der Blutmesser noch nicht erlebt. Sie hinterlassen keine ›Handvoll‹ Tote, sondern Dutzende.«
»Es sei denn, ich halte ihn auf«, sagte Gawyn. »Wo liegen seine Schwächen?«
Kaisea lachte erneut. »Schwächen? Großer Herr, sagte ich nicht, dass sie die größten Krieger von Seanchan sind, durch die Gunst und Hilfe der Kaiserin stärker gemacht, möge sie ewig leben?«
»Schön. Was ist dann mit dem Ter’angreal? Es unterstützt den Attentäter, wenn er sich in einem Schatten befindet? Wie kann ich seine Wirkung aufheben? Vielleicht viele Fackeln entzünden?«
»Es gibt kein Licht ohne Schatten, großer Herr«, sagte die Frau. »Erschafft mehr Licht, und Ihr erschafft nur weitere Schatten.«
»Es muss eine Möglichkeit geben.«
»Kaisea ist davon überzeugt, dass Ihr sie finden werdet, falls es sie gibt, großer Herr.« In der Stimme der Frau lag ein selbstgefälliger Tonfall. »Darf Kaisea Euch etwas sagen, großer Herr? Schätzt Euch glücklich, den Kampf mit einem Blutmesser überlebt zu haben. Ihr könnt unmöglich sein oder ihr Ziel gewesen sein. Es wäre angebracht, wenn Ihr Euch einen Monat lang versteckt. Gestattet der Kaiserin - möge sie ewig leben -, ihren Willen durchzusetzen, und segnet die Omen, die Euch ausreichend gewarnt haben, um entkommen und überleben zu können.«
»Genug davon«, sagte Dimana. »Ich nehme an, Ihr habt, was Ihr wolltet, Lord Trakand?«
»Ja, danke«, sagte Gawyn verstört. Er nahm nur unbewusst wahr, dass Kaisea aufstand und die Kusine ihren Schützling fortführte.
Schätzt Euch glücklich, den Kampf mit einem Blutmesser überlebt zu haben … Ihr könnt unmöglich sein oder ihr Ziel gewesen sein…
Gawyn wog das Wurfmesser in der Hand. Offensichtlich war Egwene das Ziel. Warum sonst sollten die Seanchaner eine so mächtige Waffe einsetzen? Vielleicht glaubten sie, dass ihr Tod die Weiße Burg vernichtete.
Egwene musste gewarnt werden. Er musste sie darüber informieren, auch wenn es sie auf ihn wütend machen würde oder gegen ihre Wünsche verstieß. Es konnte ihr Leben retten.
Er stand noch immer da und sann darüber nach, wie er sich Egwene am besten nähern sollte, als eine Dienerin in Rot und Weiß ihn aufsuchte. Sie trug ein Silbertablett mit einem versiegelten Umschlag. »Mein Lord Gawyn?«
»Was ist das?«, fragte er, nahm den Brief und schnitt ihn mit dem Blutmesser auf.
»Aus Tar Valon«, erwiderte die Dienerin mit einer Verbeugung. » Es kam durch ein Wegetor.«
Gawyn entfaltete das dicke Papier. Er erkannte Silvianas Schrift.
Gawyn Trakand, stand dort zu lesen. Es hat die Amyrlin sehr verstimmt, entdecken zu müssen, dass Ihr abgereist seid. Man hat Euch nicht befohlen, die Stadt zu verlassen. Sie bat mich, Euch diesen Brief zu schicken und zu erklären, dass Ihr genug Zeit hattet, in Caemlyn dem Müßiggang zu frönen. Eure Anwesenheit in Tar Valon wird erfordert, und Ihr sollt sofort zurückkehren.
Gawyn las den Brief, dann las er ihn noch einmal. Egwene schrie ihn an, weil er ihre Pläne gestört hatte, warf ihn so gut wie aus der Burg, und sie war verstimmt, entdecken zu müssen, dass er die Stadt verlassen hatte?
Was erwartete sie denn von ihm? Beinahe hätte er laut gelacht.
»Mein Lord?«, fragte die Dienerin. »Möchtet Ihr eine Antwort schicken?« Auf dem Tablett lagen Papier und Stift. » Man deutete an, dass eine erwartet wird.«
»Schickt Ihr das«, sagte Gawyn und warf das Blutmesser auf das Tablett. Plötzlich verspürte er diese ungeheure Wut, und sämtliche Gedanken an eine Rückkehr waren wie weggeblasen. Verfluchte Frau!
»Und sagt ihr«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »dass der Attentäter ein Seanchaner ist und ein besonderes Ter’angreal trägt, mit dem man ihn im Schatten nur schwer sehen kann. Man soll am besten zusätzliche Lampen entzünden. Die anderen Morde waren Versuche, unsere Verteidigung zu prüfen. Sie ist das eigentliche Ziel. Betont, dass der Attentäter sehr gefährlich ist - aber nicht die Person, die sie dachte. Falls sie Beweise braucht, kann sie herkommen und mit den Seanchanern in Caemlyn sprechen.«
Die Dienerin sah verblüfft aus, aber als er nichts mehr sagte, zog sie sich zurück.
Er versuchte seine Wut zu zügeln. Er würde nicht zurückkehren, nicht jetzt. Nicht, wenn es so aussehen würde, als käme er nach ihrem Befehl zurückgekrochen. Sie hatte ihre »sorgfältigen Pläne und Fallen«. Sie hatte gesagt, sie würde ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher