Die Tulpe des Bösen
ein Zeichen, nicht einzugreifen, und der Bettler rannte mit gesenktem Kopf gegen einen der Pfeiler, auf denen das Gewölbe ruhte. Wieder und wieder rammte er seinen Kopf gegen den harten Stein, und es gab ein häßliches Knirschen, als seine Schädeldecke aufplatzte.
Katoens Blut geriet in Wallung. Er konnte das nicht länger tatenlos mit ansehen. Während van der Zyl und seine Freunde verfolgten, wie der Bettler versuchte, sich trotz gefesselter Hände das Leben zu nehmen, beugte er sich vor, bis er, obwohl noch mit den Armen an die Stuhllehne gebunden, auf seinen Füßen stand. Von den anderen unbemerkt, bewegte er sich seitwärts zu einem der Pfeiler und vollführte eine heftige Drehung, damit der Stuhl gegen den Stein schlug.
Die drei Verschwörer drehten sich um und blickten überrascht zu ihm herüber.
Zum zweiten Mal schlug er den Stuhl gegen den Stein, zum dritten Mal. Der Stuhl zerbrach, aber seine Hände waren immer noch gefesselt.
Und schon war der junge Mann bei ihm und hielt ihm eine Pistole mit kurzem Lauf unter die Nase. Keine Waffe für eine längere oder auch nur für eine mittlere Distanz, aber absolut tödlich, wenn sie aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wurde.
»Das reicht«, sagte der Mann und drückte Katoen die Mündung der Waffe gegen die Stirn. »Seid jetzt ganz ruhig, oder Euer Kopf ist weg!«
Katoen blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen und zuzusehen, wie der alte Bettler mit blutig geschlagenem Schädel vor dem ebenfalls blutigen Pfeiler zusammenbrach. In das Blut, das sich auf den Boden ergoß, mischte sich die helle Masse seines Gehirns.
»Eine wahrhaft umwerfende Wirkung«, sagte van der Zyl und trat auf Katoen zu. »Euer Verhalten enttäuscht mich sehr, Jeremias. Ich hatte so gehofft, daß Ihr Euch uns anschließen würdet. Nun ja, vielleicht war das alles ein bißchen viel für Euch. Ich will Euch Gelegenheit geben, in Ruhe nachzudenken. Am Vormittag habe ich einen wichtigen Termin im Rathaus. Der Magistrat hat mich zur Berichterstattung geladen. Erst die Tulpenmorde, dann die Verhaftung von Joan Blaeus Hauptkontoristen, die hohen Herren werden allmählich nervös. Ich werde ihnen sagen, Ihr seid an dem Fall dran und verfolgt derzeit eine wichtige Spur, was ja nicht falsch ist. Wenn ich aus dem Rathaus zurückkomme, werde ich Euch noch einmal fragen, ob Ihr mit uns gemeinsame Sache machen wollt – und das wird das letzte Mal sein.«
»Und wenn ich bei meiner Ansicht bleibe?« fragte Katoen.
»Dann werde ich dem Magistrat wahrheitsgemäß berichten müssen, daß Ihr in Erfüllung Eurer Pflicht Euer Leben gelassen habt.«
K APITEL 27
Die Spinne im Netz (2)
S ie führten Katoen in einen Raum, in dem es nach Unrat und Erbrochenem stank. Vermutlich hatten sie hier den alten Bettler gefangengehalten. Van der Zyl selbst erlöste ihn von seinen Fesseln. Als Katoen seine Arme rieb, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen, stach es wie tausend Nadeln.
Bevor die schwere Holzbohlentür zufiel und von außen verriegelt wurde, sagte van der Zyl: »Ich hoffe, Ihr besinnt Euch noch anders. Wir könnten Euch so gut gebrauchen. Also nutzt die Zeit und geht in Euch, Jeremias!«
Dann war Katoen allein mit sich und der Finsternis. Naturgemäß gab es hier kein Fenster, und eine Lampe oder Kerze hatten sie ihm nicht dagelassen. Bevor sie die Tür geschlossen hatten, war sein Blick auf einen Strohhaufen in einer der hinteren Ecken gefallen, aber er ließ sich nicht auf dem Stroh nieder, weil der beißende, übelkeiterregende Gestank von dort kam. Statt dessen hockte er sich auf den kalten, nackten Stein neben der Tür, möglichst weit weg von dem Stroh.
Das Erlebte arbeitete in ihm, und er hörte wieder die Stimme des Amtsrichters, der ihn aufforderte, seiner Bruderschaft beizutreten. Aber das auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen kam ihm schon vor wie ein Verrat an allem, woran er glaubte. Ein Verrat an der Menschlichkeit, an Gottes Geboten und an dem Eid, den er auf die Gesetze der Stadt Amsterdam geschworen hatte. Außerdem war ihm, als starre ihn aus der Dunkelheit das schiefe Gesicht des Bettlers mahnend an, und dann sah er den Alten wieder in Raserei verfallen und den Kopf gegen den Pfeiler schlagen, wieder und wieder, jeden Schmerz mißachtend, bis er tot am Boden lag.
Was konnte einen Menschen so weit treiben? Welche dunkle Kraft lag in dieser Blume, die vollkommen zu Recht die Tulpe des Bösen genannt wurde? Was machte sie mit einem Menschen, daß er danach
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