Die Tulpe des Bösen
trachtete, sein Leben zu beenden, noch dazu auf so grausame Weise? Verwirrte sie einfach den Verstand und löste in ihrem Opfer einen ungeheuren, unstillbaren, aberwitzigen Selbsthaß aus? Oder tat sie noch mehr? Ermöglichte sie dem, der ihrem Einfluß ausgesetzt war, den Blick in sein tiefstes Inneres und ließ ihn all das Dunkle und Böse, das in ihm schlummerte, erkennen? Sah er die vollkommene Verderbtheit, die jedem Menschen als Folge der Erbsünde innewohnte? War das eine Erkenntnis, die einen Menschen dazu brachte, die Welt um jeden Preis, auch um den der sündhaften Selbsttötung, von sich selbst befreien zu wollen?
Katoen war nie sonderlich religiös gewesen, aber der Gedanke daran, wie Nicolaas van der Zyl und seine Mitverschwörer sich gegen Gott versündigten, ließ ihn schaudern. Gott hatte den Menschen seine Gnade zuteil werden lassen, um sie vom Fluch der Erbsünde zu erlösen. Wie konnten die sogenannten Wohlmeinenden es wagen, Menschen in die tiefste Finsternis zurückzustoßen, indem sie sie dazu brachten, Hand an sich zu legen?
Er war fest entschlossen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Pläne der Verschwörer zu durchkreuzen. Und wenn er keine Möglichkeit haben sollte, zu handeln, weil jenseits dieses Kerkers der Tod auf ihn wartete, dann wollte er dem gefaßt entgegensehen, sich aber keinesfalls dieser unheiligen Bruderschaft anschließen, deren Mitglieder für ihn nichts anderes waren als Teufel in Menschengestalt.
In solche quälenden Gedanken versunken, hockte er Stunde um Stunde, frierend und von Kopfschmerz und Übelkeit geplagt, auf dem kalten Stein. Er war erschöpft und müde, aber schlafen konnte er nicht.
Er hörte nichts als sein eigenes Atmen, dann und wann einen von den feuchten Wänden fallenden Wassertropfen und zwei-oder dreimal das leise Quieken einer Ratte irgendwo in dem Kellergewölbe, zum Glück nicht in seiner Zelle. Und dann, irgendwann, war da noch etwas, ein metallisches Schaben dicht bei ihm, an der Tür. Das ist der Riegel, schoß es ihm durch den Kopf, jemand zieht den Riegel zurück!
Er hatte weder Schritte gehört noch Stimmen, aber das spielte im Augenblick keine Rolle. Vielleicht bot sich ihm eine Gelegenheit, freizukommen! Rasch erhob er sich, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür und ballte die Hände. Die Verschwörer hatten ihm seinen Dolch und sämtliche Gegenstände, die er als Waffe hätte verwenden können, abgenommen, also mußte er sich auf seine Fäuste verlassen.
Sehr langsam wurde die schwere Tür aufgezogen, so als sei das ein Kraftakt für den oder die Wohlmeinenden vor der Zelle. Katoen spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er versuchte, ruhig zu atmen, und machte sich bereit, seine Fäuste ohne Rücksicht auf die Folgen dem ersten Verschwörer, der die Zelle betrat, ins Gesicht zu rammen.
Draußen im Gewölbe brannten noch die Öllampen. Ihr Lichtschein reichte zwar nicht bis in die Zelle, sorgte aber doch für ein diffuses Zwielicht, vor dem sich die Konturen des Eintretenden abzeichneten. Es war eine kleine Person, die Gestalt eines Kindes, und im letzten Augenblick hielt Katoen seine Faust zurück.
»Felix?« fragte er leise und konnte kaum glauben, was er sah.
»Ja«, lautete die ganze, mit heller Stimme vorgetragene Antwort.
Seine Augen gewöhnten sich an das schwache Dämmerlicht, und er konnte das Gesicht des Jungen erkennen. Felix’ dunkle Augen musterten ihn mit einem seltsamen Blick, wie ihn sonst eigentlich Erwachsene Kindern zuteil werden lassen. Große Sorge lag in diesem Blick. Felix’ Kleidung war ähnlich schmutzig und zerrissen wie nach seinem Abenteuer mit den Kartenschnappern, und Katoen ahnte, daß der Junge einiges auf sich genommen hatte, um zu ihm zu gelangen.
Katoen ließ sich auf die Knie nieder, legte seine Arme um Felix und drückte ihn an sich. »Wie kommst du hierher, mein Sohn?« fragte er leise.
»Ich bin den Männern gefolgt, die aus deinem Zimmer die Sachen geholt haben. Ich hab gespürt, daß etwas nicht in Ordnung ist, daß du in Gefahr bist.«
»Du hast ein gutes Gespür«, sagte Katoen und enthielt sich jeglichen Vorwurfs. Natürlich hatte Felix sich in große Gefahr begeben, aber er hatte mutig gehandelt, nicht dumm oder leichtsinnig. Und ohne den Jungen wäre er vielleicht nie lebend aus der Zelle herausgekommen. »Wie bist du in das Gewölbe gelangt?«
»Es gibt einen schmalen Luftschacht, aber ich mußte lange warten, bis die Wache unaufmerksam wurde,
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