Die Tulpe des Bösen
der halb aus dem Boden ragte. Es war ein gutes Gefühl, dem düsteren Kellergewölbe entronnen zu sein und die frische Luft zu atmen. Über den östlichen Dächern der Stadt rang die Vormittagssonne mit einer dicken Wolkenschicht. Als sie endlich durchbrach, fiel ihr Schein auf die andere Seite der Bucht, das Galgenfeld von Volewijk.
»Uns liegt hier eine Anzeige vom heutigen Tag vor, aufgegeben von der Witwe Greet Gerritsen, ansässig am Botermarkt. Sie berichtet von einem nächtlichen Besuch, den ihr angeblich unsere Büttel abgestattet haben, doch die wollen davon nichts wissen. Außerdem zeigt sie das Verschwinden ihres Mieters an, des Amtsinspektors Jeremias Katoen, sowie das eines Jungen namens Felix, der in der Obhut des Amtsinspektors steht. Warum gilt der Amtsinspektor Katoen als vermißt, wenn er doch, wie Ihr sagt, in dieser Angelegenheit ermittelt?«
»Tatsächlich ist er nicht vermißt, sondern in geheimer Mission unterwegs, und nur ich bin eingeweiht. Die beiden Männer, die in der Nacht im Haus der Witwe Gerritsen waren, habe ich ausgeschickt, um für Katoen wichtige Unterlagen aus seiner Wohnung zu holen. Was den verschwundenen Jungen betrifft, das ist mir zur Zeit auch ein Rätsel. Ich weiß nicht, ob dieses angebliche Verschwinden überhaupt im Zusammenhang mit dem Fall steht. Vielleicht ist der Junge auch nur weggelaufen, weil es ihm am Botermarkt nicht gefallen hat. Wie dem auch sei, ich habe die beiden Büttel des Amtsinspektors Katoen beauftragt, nach dem Kind zu suchen.«
Das war unverkennbar die Stimme des Amtsrichters gewesen. Die andere Stimme war Jeremias Katoen zwar bekannt vorgekommen, aber er hatte sie nicht zuordnen können. Als er die Tür zum Sitzungssaal aufstieß, sah er, daß der Seilermeister Philipp Schuiten den Vorsitz führte. Jetzt erinnerte er sich an den Klang von dessen Stimme und wußte, daß er gesprochen hatte.
Seite an Seite mit Felix trat Katoen in den Saal, und sie ernteten verdutzte, neugierige Blicke. Nicht nur daß die angeblich Verschwundenen in die Sondersitzung des Magistrats platzten, ihr Aufzug, abgerissen, schmutzig und durchnäßt, war dem Rahmen auch kaum angemessen. Aber sie hatten keine Zeit gehabt, sich zu säubern und umzuziehen.
Nachdem sie am IJ, ein gutes Stück nordwestlich der Mündung des Damraks, ans Tageslicht gekommen waren, hatten sie sich schnellstmöglich zum Rathaus begeben. Sobald Katoens Flucht oder der überwältigte Verschwörer entdeckt wurde, würden die Wohlmeinenden Nicolaas van der Zyl auf dem schnellsten Weg darüber in Kenntnis setzen. Katoen hatte vorher im Rathaus sein wollen, um ihn zur Rede zu stellen, und offenkundig war ihm das gelungen.
In van der Zyl arbeitete es, das war ihm anzusehen. Er öffnete den Mund, sagte aber nichts. Er schien sich nicht sicher zu sein, wie er sich zu Katoens Auftauchen verhalten sollte.
Dafür rief Philipp Schuiten in das allgemeine Stimmengewirr, das nach Katoens Eintreten entstanden war: »Mijnheer Katoen, was hat das zu bedeuten? Und wie seht Ihr aus?«
Katoen schloß die Tür, bevor er antwortete: »So würdet Ihr auch aussehen, Mijnheer Schuiten, wenn man Euch ein Betäubungsgift verabreicht und Euch die ganze Nacht über in einem unterirdischen Verlies gefangengehalten hätte. Und wenn Ihr dann noch auf der Flucht durch das Ufer des IJ gewatet wäret.«
Augenblicklich wurde es still im Saal, und das Erstaunen auf den Gesichtern wuchs. Schuiten fragte: »Man hat Euch betäubt und eingesperrt, einen Amtsinspektor? Wer tut so etwas?«
Katoen zeigte auf van der Zyl. »Dieser Mann dort, der Amtsrichter persönlich!«
Nach diesen Worten war es mit der Ruhe auch schon wieder vorbei, und das Stimmengewirr wurde erst richtig laut. Die meisten Ratsherren wollten nicht glauben, daß ihr Amtsrichter für eine solchen Frevel verantwortlich sein sollte.
Nur einer blieb seltsam ruhig: Joan Blaeu. Er saß auf seinem gepolsterten Stuhl und blickte van der Zyl unverwandt an. Vielleicht war ihm bei Katoens Worten etwas aufgegangen, und er sah plötzlich vieles von dem, was ihm in letzter Zeit widerfahren war, in einem anderen Licht.
Der Beschuldigte selbst blieb ebenfalls ruhig. Er stand abwartend vor dem langen Tisch, an dem die Ratsherren Platz genommen hatten.
Schuiten, der als Sitzungsvorstand in der Mitte saß, schlug so lange mit der Faust auf den Tisch, bis abermals Ruhe eingekehrt war. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Katoen. »Eure Erklärung stößt hier auf allgemeinen
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