Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kastner
Vom Netzwerk:
bei ihr wird das Opfer zur Waffe.«
    Er schüttelte unwillig den Kopf. »Ihr sprecht in Rätseln, Anna!«
    »Dann will ich es der Reihe nach erzählen. Jener Herrscher aus ferner Zeit, von dem ich sprach, kam in den Besitz einer seltenen Tulpensorte, deren Blätter so dunkel waren wie bei keiner anderen Tulpe, gesprenkelt mit rot leuchtenden Tropfen. Er besaß nur wenige Exemplare dieser unbekannten Pflanze, und die machte er aus Verehrung seiner Lieblingsfrau zum Geschenk. In jedem ihrer Gemächer stand eine dieser Tulpen, damit sie Tag und Nacht in den Genuß ihres Anblicks kam. Der Sultan ahnte nicht, daß dieser Pflanze eine böse Kraft innewohnt, die den Geist des Menschen betört, ihn in den Wahnsinn treibt und schließlich dazu bringt, sich selbst das Leben zu nehmen. Die Lieblingsfrau des Sultans stürzte sich aus dem Fenster ihres Schlafgemaches. Ihr Leib, in dem ein Kind des Sultans heranwuchs, lag zerschmettert im Hof des Palastes.«
    »Woher wußte man, daß die Tulpe der Auslöser war?« fragte Katoen zweifelnd. »Ihr Geist kann sich auch aus einem anderen Grund verwirrt haben.«
    »Kurz darauf haben zwei Dienerinnen der Dahingegangenen ebenfalls den Tod gesucht, aber auch da war die Tulpe noch nicht verdächtig. Erst als auch noch der Tulpenverwalter des Sultans, der die gefleckte Tulpe in seine Obhut genommen hatte, durch eigene Hand starb, wurde man mißtrauisch und kettete zur Probe mehrere ungläubige Gefangene in einem Raum an, in dem ein paar von diesen Tulpen in einer Vase standen.«
    »Und was geschah?« fragte Katoen, der, ob er wollte oder nicht, der Faszination von Annas Geschichte erlegen war, auch wenn sie eher nach einem morgenländischen Märchen als nach der Wahrheit klang.
    »Einer nach dem anderen verfiel dem Wahnsinn und hätte sich das Leben genommen, wären nicht die Ketten gewesen. Zweien von ihnen soll es gelungen sein, sich gegenseitig mit ihren Ketten zu erwürgen. Da erkannte der Sultan, daß er sich mit den gefleckten Tulpen keinen Schatz in den Palast geholt hatte, sondern eine Verkörperung des Bösen, und seither heißt jene Pflanze nur noch ›Tulpe des Bösen‹ oder, wegen ihres ungewöhnlichen Musters, ›Bluttulpe‹.«
    »Ich nehme an, der Sultan hat den gesamten Bestand sofort vernichten lassen.«
    »Nein, dazu war er nicht in der Lage, denn die Schönheit dieser Blume betörte ihn noch immer, trotz all des Unglücks, das sie angerichtet hatte. Die Vorstellung, daß er für das Aussterben dieser einzigartigen Pflanze verantwortlich sein sollte, konnte er nicht ertragen. Deshalb ließ er alle noch vorhandenen Exemplare in eine Festung an einem abgelegenen Küstenstreifen bringen, wo die Tulpe des Bösen fortan unter strenger Bewachung gehalten werden sollte. Den Wachen wurde eingeschärft, sich niemals zu lange in der unmittelbaren Nähe der Pflanzen aufzuhalten. Aber um ganz sicherzugehen, daß nie wieder ein Gläubiger der Tulpe des Bösen zum Opfer fallen würde, verfügte der Sultan, daß die Besatzung der Festung ausschließlich aus ungläubigen Söldnern bestehen sollte.«
    »Aus Christen also?«
    »Ja, aus Christen. Es hat immer Christen gegeben, die auf der morgenländischen Seite gekämpft haben, aus den unterschiedlichsten Gründen; viele haben es für Geld getan, andere aus Überzeugung. Mein Vater, Julien de Montfor, tat es aus Dankbarkeit, weil osmanische Krieger sein Leben geschont hatten, als er ihnen, nach einem Schiffsunglück an ihre Küste gespült, in die Hände gefallen war. Außerdem war es wenig wahrscheinlich, daß er an der Tulpenküste, wie man jenen Küstenstreifen inzwischen nannte, gegen seine Glaubensbrüder würde kämpfen müssen.« Anna seufzte. »Doch das Schicksal wollte es anders. Eines Tages tauchte ein großes Schiff der Ostindischen Kompanie, die Admiraal van der Haghen, vor der Küste auf und nahm die Festung unter Feuer. Vorher hatten die Niederländer heimlich einen Trupp Soldaten an Land gesetzt, der während der Kanonade in die Festung eindrang und in dem allgemeinen Aufruhr einige Tulpenzwiebeln an sich bringen konnte. Sobald die Niederländer die Zwiebeln an Bord gebracht hatten, drehte das Schiff ab, um ebenso schnell wieder zu verschwinden, wie es aufgetaucht war. Die Angreifer hatten ja, was sie wollten.«
    »Die Tulpenzwiebeln«, murmelte Katoen, noch ganz gefangen von dem, was er gehört hatte. »Das klingt nach einem sorgfältig geplanten Überfall, nach einer Expedition mit dem Ziel, diese Zwiebeln zu erbeuten. Aber

Weitere Kostenlose Bücher