Die Tulpe des Bösen
einen jungen Hund hin und her scheuchten.
»Wohin gehen wir?« fragte Anna.
»Was haltet Ihr von der Plantage?«
Sie nickte. »Viel.«
Also wandten sie sich nach Osten und durchschritten das Jordaanviertel in Richtung des Grachtengürtels. Der nahende Sonntag machte sich bemerkbar: Einige kleine Läden und Werkstätten wurden bereits geschlossen, weil ihre Inhaber nach einer arbeitsreichen Woche noch etwas von der milden Frühlingsluft haben wollten. Die weitaus meisten Geschäfte aber waren noch geöffnet und würden es wohl auch bleiben, bis die Sonne unterging. Wer im Jordaan lebte, hatte in der Regel nicht eben viel Geld, und jede Stunde Arbeit, jeder Hammerschlag, jeder verkaufte Korb oder Gürtel bedeutete für die kommende Woche ein Stück Fleisch mehr auf dem Teller.
Als die Prinsengracht vor ihnen auftauchte, fragte Katoen: »Sagt Ihr es Eurem Ziehvater auch, wenn Ihr das Rapier umschnallt und nachts unterwegs seid?«
»In unserer engen Wohnung läßt sich gar nicht vermeiden, daß er es mitbekommt.«
»Und das ist ihm recht?«
»Ganz bestimmt nicht. Er sorgt sich um mich. Aber er weiß auch, wie wichtig es für mich ist, das Vermächtnis zu erfüllen. Deshalb würde er niemals versuchen, mich aufzuhalten.«
»Ich nehme an, Ihr sprecht vom Vermächtnis Eures leiblichen Vaters.« Als Anna nickte, fuhr er fort: »War er es, der Euch in die Fechtkunst eingeführt hat?«
»Ja. Da er keinen Sohn hatte, brachte er mir, seiner einzigen Tochter, alles bei, was er wußte und beherrschte. Jedenfalls, so gut ich es in dem Alter aufzunehmen vermochte. Später habe ich mein Können bei einem anderen Fechtlehrer verfeinert.«
»Dieser Julien de Montfor muß ein beeindruckender Mann gewesen sein, wenn ich bedenke, mit welcher Entschlossenheit Ihr so viele Jahre nach seinem Tod darangeht, sein Vermächtnis zu erfüllen.«
»Sicher war er ein beeindruckender Mann, aber ich denke, Ihr hättet für Euren Vater dasselbe getan.«
»Mag sein«, sagte Katoen leise und versuchte vergeblich, sich ein Bild seines Vaters in Erinnerung zu rufen.
Irgendwann hatte er einfach vergessen, wie sein Vater ausgesehen hatte. Das Bild, das er vor seinem inneren Auge sah, war eine Mischung aus den Seeleuten, wie man ihnen in Amsterdam auf Schritt und Tritt begegnete, und jenen verwegenen, heroischen Gestalten auf Gemälden, wie sie fast in jedem öffentlichen Gebäude und jedem größeren Bürgerhaus hingen. In Katoens Vorstellung war sein Vater ein sehr großer und sehr starker Mann, wie alle Väter es für ihre Kinder sind, die Haut gebräunt von der Sonne und gegerbt von dem rauhen Wind auf See, der Blick geschärft durch das Ausschauhalten nach feindlichen Schiffen und fremden Gestaden, in einer Hand ein langes Messer, in der anderen eine geladene Pistole, stets bereit, einen englischen oder spanischen Segler zu entern.
Als sie die breiten Grachten überquerten, die das alte Amsterdam, die Keimzelle der ständig wachsenden Stadt, wie ein Hufeisen umschlossen, schlug ihnen ein fauliger Geruch entgegen. Das war die Kehrseite des warmen Wetters: Die Abfälle und der Unrat, von den Amsterdamer Bürgern sorglos in die Grachten gekippt, würden bald schon im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinken. Katoen und Anna beschleunigten ihren Schritt, um den Grachtengürtel schnell hinter sich zu lassen. Sie kamen durch belebte Straßen und mußten immer wieder Lastschlitten ausweichen. Bevor der Tag dem Abend wich und die Woche zu Ende ging, schien die Stadt noch einmal zeigen zu wollen, welch große Kraft in ihr steckte.
Im Vergleich zu dieser Geschäftigkeit waren die Grünanlagen der Plantage eine Oase der Ruhe. Vereinzelt begegneten sie anderen Spaziergängern, und nur ganz von fern hörten sie ein gleichmäßiges metallisches Hämmern, als sie einen der schnurgeraden Wege zwischen bunt leuchtenden Beeten mit Gladiolen und langstieligen Tulpen entlangschlenderten. Der auflandige Wind wehte das Geräusch von Süden heran, wo dem Meer einige Jahre zuvor durch Erdaufschüttung die Inseln Kattenburg, Wittenburg und Oostenburg abgetrotzt worden waren. Oostenburg diente als Stützpunkt für Dock und Werft der Ostindischen Kompanie. Das leise Hämmern, das einen seltsamen Gegensatz zum Gezwitscher der zahlreichen Vögel bildete, kam vermutlich aus der Ankerschmiede.
Katoen streifte seine Begleiterin mit einem Seitenblick und dachte zurück an die vergangene Nacht, als sie Wams und Hosen anstatt eines Kleides, Stulpenstiefel anstelle von
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