Die Tulpe des Bösen
Gesandter des Kaisers Ferdinand, Maximilians Vater, hatte Tulpenzwiebeln aus dem Osmanischen Reich nach Wien geschickt, und für Clusius wurde die Tulpenzucht bald zur Leidenschaft.«
»Kommt nicht sogar der Name ›Tulpe‹ aus der Sprache der Türken?«
»So sagt man, ja. Er soll von der türkischen Bezeichnung für eine Kopfbedeckung abgeleitet sein, die dem Blütenkelch der Tulpe ähnelt. Andere wieder meinen, diese Übersetzung beruhe auf einem Irrtum. Ich kann es Euch nicht sagen, mein Wissen ist zu lückenhaft.«
»Ganz und gar nicht. Ihr seid sehr bewandert in der Geschichte der Tulpe, Anna.«
»Langweile ich Euch?«
»Nein, sprecht ruhig weiter«, sagte er in der sicheren Erwartung, daß der spannende Teil ihrer Erzählung erst noch kommen würde.
»Wie später wir Niederländer waren auch die Türken ganz vernarrt in die Tulpe, und der mit Abstand größte Tulpenliebhaber war nach allgemeiner Auffassung im vergangenen Jahrhundert der Sultan Süleyman, genannt der Prächtige. Er hat seinen Palast mit so vielen Tulpen geschmückt, daß der Volksmund ihn bald ›Palast der Tulpen und Tränen‹ nannte.«
»Warum Tränen?« fragte Katoen.
»Das weiß ich auch nicht so genau. Ich vermute, das Volk mußte gehörig dafür bluten, daß seinem Herrscher so viele Tulpen zur Verfügung standen. So ist es doch meistens mit den Menschen und ihren Herrschern, oder?«
»Da habt Ihr wohl recht.«
»Süleyman der Prächtige jedenfalls konnte von seinen geliebten Tulpen nicht genug bekommen, und wo er keine echten Blumen haben konnte, da ließ er Bilder von ihnen anbringen: auf den Vasen im Palast, auf den Fliesen an den Wänden, auf seinen Gewändern; ja, die Tulpe wurde sogar Bestandteil seines Wappens. Es heißt, er habe zum Frühlingsvollmond ein Fest gegeben, dessen Zierde eine halbe Million blühende Tulpen waren. Ihr seht also, man kann Sultan Süleyman mit Fug und Recht als den größten Verehrer der Tulpe im Osmanischen Reich bezeichnen.«
Die Art, in der Anna die letzten Worte vorbrachte, ließ Katoen aufhorchen. »War er es denn Eurer Meinung nach nicht?«
Anna sah nicht ihn an, sondern blickte über das leuchtende Tulpenbeet, als sie sagte: »Die meisten Menschen wissen nicht, daß es schon vor Süleyman einen Herrscher gab, der von einer ähnlichen Besessenheit für die Tulpe erfüllt war. Jahrhunderte vor Süleyman, als das Osmanische Reich noch im Entstehen begriffen war. Der Name dieses Sultans ist heute vergessen, aber sein Vermächtnis besteht fort.«
Sie sprach jetzt sehr langsam, fast schleppend, und Katoen spürte, daß sie sich überwinden mußte, um ihre Erzählung fortzusetzen. Er drängte sie nicht, sondern trank von seinem Himbeersaft und wartete einfach ab. Er hatte den Eindruck, daß sie ihm mehr und mehr Vertrauen entgegenbrachte, und das wollte er nicht zerstören.
Plötzlich wandte sie sich ihm zu und fragte: »Habt Ihr das Blütenblatt dabei, das bei einem der Ermordeten gefunden wurde?«
»Seit Tagen trage ich es mit mir herum«, antwortete Katoen, holte die Tabakdose hervor und öffnete sie. »Und die ganze Zeit frage ich mich, ob dieses Tulpenblatt mir nun Glück bringt oder Unglück für mich ist. Vermutlich letzteres, denn der Mörder läuft noch immer frei herum.«
»Die Tulpe des Bösen hat noch niemandem Glück gebracht, aber das wußte jener osmanische Herrscher nicht, der glaubte, in ihr seinen größten Schatz gefunden zu haben.«
Katoen starrte auf das schwarze Blatt mit den blutroten Tupfen. »Die Tulpe des Bösen? So hat Euer Ziehvater sie auch genannt. Was ist denn an ihr so böse?«
»Die Macht, die sie über Menschen ausübt.«
Einen Augenblick lang glaubte Katoen, Swalmius hätte seine Ziehtochter mit seinem Wahnsinn angesteckt, aber ihr Blick wirkte weder entrückt noch von eifernder Leidenschaft beseelt, und ihre Stimme klang fest und bestimmt.
Trotzdem wandte er ein: »Eine Pflanze kann keine Macht über Menschen ausüben! Was redet Ihr da, Anna?«
Sie deutete auf das harmlos erscheinende Blatt in der Holzdose. »Diese Tulpe kann es, wenn ein Mensch ihr zu lange ausgesetzt ist. Sie zwingt ihm ihren Willen auf und treibt ihn in den Tod.« Wie Anna das sagte, klang es ganz selbstverständlich, dabei war es in Wahrheit ungeheuerlich.
Unsicher sagte Katoen: »Das klingt fast so, als wolltet Ihr sagen, nicht ein Mensch habe die Tulpenmorde begangen, sondern … eine Tulpe!«
»Nein, das war ganz sicher ein Mensch. Die Tulpe des Bösen benutzt kein Messer,
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