Die Tunnel der Seele
Hand zurück. Durch das Flackern des Lichtes bewegten sich die Schatten und erweckten den Anschein, dass sich die Statue zwischen all den Brettern und Strippen bewegte. Anna starrte in die kleine Flamme der Laterne, direkt hinein in den heißesten Punkt. Wenn sie sich ihre Netzhaut verbrennen würde, müsste sie in der kurzen Zeit, die ihr noch blieb, vielleicht nie wieder einem Geist begegnen. Könnte dann weder sehen noch hellsehen.
»Das bin nicht ich«, sagte sie und schluckte die Tränen hinunter. »Das ist meine Mutter.«
»Deine Mutter?«
»Sie ist hier. Sie ist tot. Sie ist jetzt eine von denen. Und sie können sie von mir aus auch haben, ist mir egal.«
»Eine von denen? Moment mal, ich bin gerade etwas verloren.«
»Willkommen im Club! Ich habe auf meinem Weg auch alles und jeden verloren.«
Sie knallte die Laterne so energisch auf Masons Arbeitstisch, dass das Glas schepperte. Das Flackern der Flamme ließ die Schatten tanzen und die Dunkelheit schlich sich langsam an Anna heran. »Hier, du wirst Licht brauchen, denn wenn du dich selbst verlierst, wird es ziemlich finster um dich werden.«
Sie ging auf die Treppe zu und genoss die frische Luft, die ihr entgegen schlug. Da waren wieder die Schmerzen, die sie daran erinnerten, dass ihre Zeit bald abgelaufen war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ihre Uhr stehen blieb. Nicht mehr lange, bis es um sie herum dunkel wurde. Sie konnte es kaum erwarten.
Als sie die Holzstufen hinaufstampfte, sprach sie ihren gewohnten Zählreim.
Zehn, dünn und rund.
Neun, Schlaufe mit Schwänzchen.
Acht, ein doppeltes Tor.
»Anna, warte.«
Sieben, scharf und gerade.
Sechs, Schlaufe mit Schnippchen.
»Es tut mir leid.«
Ihr tat es auch leid.
Fünf, ein Mann mit Bauch.
Vier, ein gehisstes Segel.
»Ich habe Angst.«
Willkommen im Club.
Drei, eine Adlerklaue.
Zwei, ein stolzer Schwan.
Eins, eine Trennlinie.
»Hilf mir.«
Null.
Nichts.
Sie öffnete die Tür und ging den Gang hinunter, strömte durch die Lebensadern des Hauses, das geduldig den Atem anhielt und ihr sein warmes, gütiges Herz zu Füßen legte. Wenn man eine Sache akzeptierte, fand man seinen Seelenfrieden. Dies war der erste und der letzte Ort in ihrem Leben. Hier gehörte sie hin. Sylva Hartley hatte recht. Sie war nach Hause gekommen.
48. KAPITEL
E ndlich war sie zu Hause angekommen. Sylva zerrieb die getrocknete Blutwurz, in ihren Venen pulsierte das Blut, schoss durch ihren Körper wie die Schneeschmelze, die am Ende des Winters lawinenartig über das Gestein fegte. Nur noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang. Nicht mehr lange, und der blaue Mond würde aufgehen. Beinahe einhundert Jahre lang hatte Sylva sich nach dieser Nacht gesehnt, hatte sie in ihren Gebeten, die leidenschaftlicher brannten als das heißeste Höllenfeuer, herbeigefleht.
Die Geister regten sich im Schmutz, bewegten sich rastlos in ihren Tunneln, in ihrer Ruhe gestört durch Ephram Korbans wiederkehrende Macht. Sie kannte Ephram besser als jede andere Person, sogar besser als Margaret, oder Miss Mamie, wie sie gern genannt werden wollte. In unzähligen Nächten wurde sie von Ephram Korban heimgesucht, hörte seine Stimme, die wie ein rauer Wind durch Beechy Gap fegte und ihr flüsternd die Zaubersprüche entlockte. In diesem Moment braute Korban gerade einen Sturm zusammen, der bereits George Lawson und einen der Neuankömmlinge ereilt hatte und schon bald weitere in seinen Bann ziehen würde. Zum nächsten Sonnenaufgang würde Korban über sie alle herrschen. Sogar über Anna. Vor allem über Anna.
Sylva hielt das Tongefäß mit den Katzenknochen, streute ein paar Körnchen in die Feuerstelle. Sie umklammerte den Stein so fest, dass ihre Hand schmerzte, aber das Pulver musste so fein gemahlen sein wie Grabesstaub. Zitternd zerkleinerte sie die Mixtur ein weiteres Mal, arbeitete die trockenen Kräuter ein. Das Feuer spuckte, ein gutes Omen, wie Sylva meinte.
Würde ihr Glaube ausreichen? Sie hatte die Zauberformeln im Blut, ihr ganzes Leben hatte sie von dieser einen magischen Nacht abhängig gemacht. Wie oft war sie über Hügel gewandert, hatte Wurzeln gesammelt, Legenden zusammengetragen, mit den Toten gesprochen, selbst dann, wenn die Toten in Ruhe gelassen werden wollten. Der Zauberspruch kam über ihre rissigen Lippen wie eine wirre Fieberfantasie.
Wenn die Zeit gekommen war, würden die Worte wie von selbst aus ihr heraussprudeln. Frost und Feuer, Ephram Korban war Frost und Feuer. Tot und
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